Das Mädchen am Telefon (Teil 1/10)

I.

Eine kleine Vorbemerkung: Ich trage die im Folgenden beschriebenen Ereignisse nun schon seit beinahe 20 Jahren mit mir herum. Als ich mich neulich wieder ihrer erinnerte, da bemerkte ich, dass diese Erinnerung allmählich zu verblassen beginnt – was auf der einen Seite gut ist, auf der anderen Seite aber auch wieder nicht. Denn was mir damals widerfuhr, das war so unfassbar, dass ich mir fest vorgenommen hatte, irgendwann einmal davon zu berichten… damit es nicht verloren geht, und damit es anderen Menschen vielleicht eine Warnung sein kann.

Ich denke, der Zeitpunkt ist jetzt gekommen. Alles, was ich erzähle, ist wahr und hat sich tatsächlich zugetragen. Ich habe lediglich Namen, Orte und Zeiten geändert, um die beteiligten Personen zu schützen.

Einiges, wie zum Beispiel diverse ‚Ereignisse‘ nach unserer Expedition nach Bayern, weiß ich nicht mehr in allen Details. Andere Dinge, wie meine letzten Telefonate mit der Kriminalpolizei und Helenas Reaktion darauf, sind mir heute noch so präsent, als hätten sie sich gestern erst zugetragen.

Das Grauen begann vor 20 Jahren im Büro des Kinder- und Jugendtelefons Bruchsal, mit einem verzweifelten Anruf, anderthalb Minuten vor Dienstschluss, Mittwoch abends.

Ich war damals in einer festen Beziehung mit Helena, ihres Zeichens Psychologiestudentin und angehende Psychotherapeutin, und diese Beziehung hätte eigentlich nicht sein dürfen. Wenn ich sie heute, all die Jahre später, beschreiben soll, so ist „katastrophal“ das erste Wort, das mir einfällt. Und dann vielleicht noch „leidenschaftlich“.

Wobei letzteres natürlich das Problem war: Ich war zwar auf dem Papier schon lange erwachsen, aber heute kann ich einfach zugeben, dass ich vergleichsweise unerfahren, unreif und hauptsächlich von Hormonen gesteuert war. Und alles Körperliche, was ich mir jemals vorgestellt und ersehnt hatte, das ließ Helena ganz selbstverständlich wahr werden. Sexuelle Erfüllung war für mich zum damaligen Zeitpunkt ein enorm aussagekräftiger Indikator dafür, die Frau fürs Leben gefunden zu haben; und dafür, dass die Beziehung mit ihr unbedingt und um jeden Preis klappen musste.

Die Kehrseite der Medaille? Es klappte in allen anderen Bereichen natürlich gar nichts. Helena passte menschlich überhaupt nicht zu mir. Im Gegenteil – sie machte mich richtiggehend kaputt. Sie wusste genau, wie sie mir weh tun konnte, wie sie mich richtig tief und nachhaltig verletzen konnte, und genau das tat sie auch, immer und immer wieder.

Ich gebe ihr nicht die ganze Schuld daran, denn heute weiss ich, dass zu so einer Angelegenheit immer zwei Menschen gehören. Ich nehme auch nicht an, dass sie es absichtlich tat. Es war einfach etwas an mir, was diese Seite von ihr zum Vorschein brachte, und andersherum war etwas an ihr, was mich bereitwillig eine Verletzung nach der anderen einstecken ließ.

Nach einem Jahr war ich schließlich so weit, mich auf Helenas Anraten (die meine Empfindlichkeiten und Verletzbarkeiten natürlich selbst nach besten Kräften psychologisch analysiert hatte und nun bei mir eine Depression diagnostiziert zu haben glaubte) selbst in therapeutische Behandlung zu begeben. Ziel war es, herauszufinden, was in meiner Kindheit so fürchterlich schief gegangen war, dass mich Helenas fortwährende „doch nur so dahingesagten“ Beleidigungen, Sticheleien und sonstigen unsensiblen Feststellungen so unendlich traurig und hilflos machten, und dabei war mir vollkommen klar: Irgendwas an mir musste kaputt sein, es konnte nichts davon an Helena liegen.

So viel zur allgemeinen Situation damals. Ich erzähle dies alles hauptsächlich, damit der geneigte Leser, derlei mit Vorwissen ausgestattet, später vielleicht besser zu begreifen vermag, warum die Dinge auf so fatale Weise ihren Lauf nehmen mussten, wie sie es schließlich taten.

Helena arbeitete damals an ihrer Diplomarbeit und jobbte nebenher beim Bruchsaler Kinder- und Jugendtelefon. Dabei handelte es sich, wie der Name schon sagt, um eine Einrichtung, bei der Kinder und Jugendliche anrufen konnten, um anonym von ihren Sorgen und Ängsten zu erzählen und professionelle psychologische Beratung zu bekommen.

Meistens war nichts Dramatisches dabei, und die Sorgen und Nöte der Anrufer bewegten sich im Spektrum von Spaßanrufen über das Dr.-Sommer-Repertoire bis zur äußerst seltenen Frage, ob man nach ungeschütztem Sex unter Umständen ungewollt schwanger werden konnte.

Doch an diesem Abend sollte es anders kommen.

Es war kurz vor acht Uhr, als das Telefon klingelte. Helena war schon am Zusammenpacken gewesen, aber Job ist Job, Helena nahm ihre Aufgabe sehr ernst, und so setzte sie sich nochmal an ihren Schreibtisch und nahm ab.

Am anderen Ende war Verkehrslärm zu hören. Eine Schnellstraße oder Autobahn. Und schließlich, nach Helenas mehrmaligem Nachfragen, die leise Stimme eines kleinen Mädchens, das sich als Nicole vorstellte.

Nicole stand auf einer Autobahn-Talbrücke irgendwo in Bayern und hatte die Absicht, in die Tiefe zu springen.

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Kommentare

2 Antworten zu „Das Mädchen am Telefon (Teil 1/10)“

    1. Ich befürchte, wir sind noch ganz am Anfang…

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