Das Mädchen am Telefon (Teil 7/10)

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VII.

„Ach Du Schande!“ entfuhr es meiner Therapeutin, und sie bedeckte vor Schreck ihr Gesicht mit den Händen.

Derlei emotionale Ausbrüche waren zumindest von Therapeutenseite in unseren Sitzungen eher ungewöhnlich.

Es waren seit Bayern mehrere Wochen vergangen, und meine Therapie hatte wegen Urlaub ebenfalls mehrere Wochen pausiert.

Die erste Sitzung nach dem Urlaub meiner Therapeutin verbrachte ich damit, sie auf den neuesten Stand zu bringen, ihr zu berichten, was inzwischen so geschehen war.

Und geschehen war dieses: Martina hatte sich wieder bei Helena gemeldet. Nicht einmal, sondern sehr oft. Nach und nach war Martina – mit Helenas fernmündlicher Beratung und Unterstützung – dahinter gekommen, dass bei Nicole und ihrer Mutter so einiges nicht stimmte, und irgendwann kam die Offenbarung von Nicole:

Ja, sie hatte Martinas Telefon an sich genommen.

Ja, sie hatte mit Helena telefoniert, den ganzen Sommer lang, immer wieder.

Ja, sie hatte gelogen, als sie von Bayern erzählte und von der Geburtstagsfeier bei der Großmutter.

Aber sie hatte nicht gelogen, was die Vergewaltigungen betraf: Sie war wirklich von ihrem Stiefvater vergewaltigt worden, mehrfach.

Nach vielen weiteren Gesprächen mit Martina kam es dann schließlich zur tränenreichen und rührenden telefonischen Wiedervereinigung von Nicole und Helena, selbstverständlich mehrere Stunden lang, und unter Martinas aufopferungsvoller Leitung und Aufsicht.

Und schließlich kam man überein, dass man Nicole (und ihrer Mutter, mit der Martina ja immerhin mal eine Beziehung gehabt hatte) von nun an gemeinsam helfen würde. Martina vor Ort in Trier und Helena am Telefon.

Das war dann der Punkt, an dem meine sonst so kontrollierte Therapeutin die Contenance verlor.

„Und was macht das mit Ihnen?“ fragte sie schließlich, als sie sie wieder eingesammelt hatte.

„Als sie es mir erzählt hat… ganz ehrlich: Ich hätte beinahe gesagt ‚ok, ich geh mal eben kotzen‘“

„Aber Sie haben es nicht gesagt“, stellte meine Therapeutin fest.

„Nein, ich habe es nicht gesagt.“

„Und warum nicht?“

„Erstens hätten wir dann wieder Streit gehabt, und sie hätte sich darüber beklagt, von mir keine Unterstützung zu bekommen, und dass ich immer nur einfordere…“

„Und zweitens?“ fragte sie.

Es fiel mir schwer, das zuzugeben: „Weil irgendetwas in mir denkt, die Geschichte könnte doch stimmen… und Helena könnte Nicole helfen… und ich könnte Helena helfen.“

„Was ist denn mit dem Umfeld, mit Ihrem Freundeskreis?“ fragte meine Therapeutin, „wie reagieren die auf diese Situation?“

Wieder fiel mir die Antwort schwer. Helena und ich hatten viele gemeinsame Freunde… beziehungsweise etwas, was man damals vermutlich als „Clique“ bezeichnet hätte. Und die Wahrheit war, unsere endlosen Beziehungsprobleme hatten unseren Freundeskreis schon vor Nicoles Auftreten sehr belastet.

Aber mit Nicole wurde es unseren Freunden allmählich zu viel. Einer von ihnen hatte sogar beim Kinder- und Jugendtelefon in Bruchsal angerufen und berichtet, was Helena getan hatte… in der Hoffnung, dass ihre Vorgesetzten dem Spuk ein Ende bereiten würden. Das war gut gemeint gewesen, ging aber naturgemäß vollständig nach hinten los. Helena flog hochkant raus, beschuldigte tagelang mich, etwas damit zu tun zu haben, und wurde nur noch verbissener in ihrer Überzeugung, die Retterin von Nicole, Nicoles Mutter und Martina sein zu müssen.

Und so verblieb unser Freundeskreis kopfschüttelnd und hilflos, und es erreichten mich die ersten vorsichtig formulierten Ratschläge, mir diesen Wahnsinn nicht länger anzutun, die Beziehung zu beenden und doch bitte wieder der Stephan zu sein, der ich wohl gewesen war, bevor das Mädchen am Telefon in unser Leben getreten war.

„Sie halten die Situation für bedenklich, und sie raten mir dazu, auf Abstand zu gehen… oder Schluss zu machen…“, berichtete ich schließlich wahrheitsgemäß.

Meine Therapeutin nickte.

„Und was wollen Sie?“ fragte sie.

„Ich will Helena helfen…“ begann ich.

„Nein… Sie wissen doch inzwischen, wie das hier funktioniert. Die Frage war nicht, was Sie sich für Helena wünschen. Die Frage ist, was Sie wollen, was Sie brauchen, was Sie sich wünschen…“

„Ich will, dass dieser Wahnsinn aufhört“, antwortete ich.

Wieder nickte meine Therapeutin.

„Wird dieser Wahnsinn aufhören, wenn Sie weiterhin daran teilnehmen?“ fragte sie.

Und ich wusste, was ich zu tun hatte. Wusste, dass ich mich schützen musste. Und so schwer es war, entfernte ich mich in den folgenden Wochen von Helena; ignorierte ihre Schreckensgeschichten so gut es ging. Was sie mit Nicole und Martina am Telefon erlebte, das ergab alles schon lang keinen Sinn mehr… doch die Zeit, in der Helena dies vielleicht noch hätte begreifen können, war vorbei.

Ich ging auf Abstand und hoffte, der Wahnsinn würde auch ohne mein Zutun ein Ende finden.

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