David Longdon

In einem Interview erzählte David Longdon letztes Jahr, dass es einen Zeitpunkt gab, an dem er nicht mehr damit rechnete, dass es mit der Musik noch was werden würde.

„Du kommst an einen bestimmten Punkt und denkst Dir: ‚ok, das war’s, es ist vorbei‘.“

Doch im Jahr 2009 kam es dann ganz anders, und so ist es glücklicherweise nicht nur dieses einsame und vernichtende Gefühl, das mich mit David Longdon verbindet – sondern es ist vor allem die Musik, die er in den folgenden Jahren zusammen mit Big Big Train produzierte; Musik, die ich erst sehr spät entdeckte, die mich aber durch gute und schlechte Zeiten begleitete. Neun wunderschöne Alben sollte David Longdon mit BBT in den nächsten zwölf Jahren schließlich aufnehmen – ein ganz unglaublicher Output, vor allem für Musik von solcher Tiefe und Komplexität.

Noch unglaublicher ist, dass Big Big Train damit großen Erfolg hatten, denn eigentlich gibt es solche Musik nicht mehr, zumindest nicht von „neuen“ Gesichtern. Es gibt sie deshalb nicht mehr, weil sie nur noch von wenigen Menschen gehört wird, weil sie garantiert nicht im Radio gespielt wird, weil es jahrzehntelange Arbeit braucht, um sich in dieser Sparte eine einigermaßen gesunde Fanbasis aufzubauen… und nicht zuletzt, weil ihre Produktion saumäßig teuer ist.

Und weil das so ist (und vielleicht auch, weil Ex-Sänger Martin Read und Sean Filkins keinen bleibenden Eindruck zu hinterlassen vermochten) dümpelten Big Big Train jahrelang am Rande der Obskurität vor sich hin – ignoriert, unbekannt, mehr als einmal kurz vor der Pleite und vom Plattenlabel alleingelassen.

Die Dinge änderten sich schlagartig, als David Longdon zu Big Big Train stieß.

Wenn man The Underfall Yard – das erste BBT-Album mit Longdon – hört, dann hat man das Gefühl, hier fügt sich etwas zusammen, was einfach ganz genau so gehört. Hier haben sich Menschen gefunden, die sich finden mussten. Longdons Stimme (oft mit Peter Gabriel verglichen, womit aber nur an der Oberfläche gekratzt wird), sein musikalischer Input und seine Texte verliehen Big Big Train eine menschliche Tiefe und Zugänglichkeit, die ihnen vorher abgegangen war.

David Longdon ist 44, als er 2009 zu Big Big Train stößt und es mit der Musik tatsächlich doch noch „etwas wird“.

In der Folgezeit gehen er und seine Bandkollegen ran wie der Teufel – als gelte es, alles aufzuholen, was bisher nicht möglich gewesen war. Die Alben folgen Schlag auf Schlag, eines besser und ausgefeilter als das andere. Wirkte The Underfall Yard teilweise noch etwas spröde und zusammengewürfelt, so darf man das folgende Album English Electric, Part 1 getrost als Meisterwerk bezeichnen, und ebenso alles, was danach kommt.

Big Big Train tauchen thematisch ein in englische Folklore, in humanistische Werte, in die Folgen der Industrialisierung, in die großen Fragen der Menschheit… und alles immer und jederzeit mit einem Augenzwinkern, ohne allzu abgefahren intellektuell zu werden – und mit unbändiger, entfesselter Spielfreude, der man sich insbesondere als Musiker nur ganz schwer entziehen kann. Es passiert sogar das bisher Unvorstellbare – man bringt das Projekt auf die Bühne und spielt begeistert aufgenommene Konzerte.

Ende Juli 2021 veröffentlichen Big Big Train ihr aktuelles Album, Common Ground und beschäftigen sich darauf mit der Pandemie, mit der Notwendigkeit, diese Welt nicht populistischen Spinnern und sonstigen Wahnsinnigen zu überlassen, und mit Liebe und zwischenmenschlicher Verpflichtung.

In Bezug auf den Titel-Track von „Common Ground“ erzählt David Longdon in einem Interview im Sommer 2021 über die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin:

„This time in my life – I’m now 56.  It’s time to get on it, because we don’t have forever!  This was written slightly before the pandemic actually, the title track.  But it’s just about that, really; it’s about claiming it!  It’s not about “will we find it?”  It’s “you’d better find it and get on with it, because you’re not — it won’t be forever.  We don’t get forever.”  That’s the beauty of being human, we don’t get forever.  So that’s what it was about.  The idea of claiming it is actually going, “yeah, I’m committing to this.  I’m going down that road.”  

https://progarchy.com/2021/06/29/big-big-trains-david-longdon-the-progarchy-interview/

Nur wenige Monate nach der Veröffentlichung von „Common Ground“ kündigen Big Big Train im Herbst ein neues Album an, das 2022 erscheinen soll und bereits zu weiten Teilen fertig aufgenommen ist, begleitet von einer groß angelegten Tour. Es sieht so aus, als könne nichts und niemand das gewaltige kreative Feuerwerk von Big Big Train und David Longdon aufhalten.

Doch David Longdon stirbt am 20. November 2021 nach einem Unfall.

Er hinterlässt seine Lebensgefährtin und zwei Töchter.

Es ist schwer zu begreifen, dass er weg ist. Jemand, der noch so viel vor hatte, der mitten drin in allem war… einfach so aus dem Leben gerissen.

Ich hatte mich sehr darauf gefreut, BBT live zu sehen, wenn der ganze Mist endlich vorbei ist… man sollte echt das beste aus der Zeit machen. Gesegnet, wer die Tatsache, dass wir nicht ewig Zeit haben, als das Schöne am Menschsein sehen kann… Ich wünschte, David Longdon hätte viel, viel mehr davon gehabt.


Kommentare

Eine Antwort zu „David Longdon“

  1. Ach f*ck indeed.
    Wieso zum Kuckuck habe ich bis jetzt nie von dieser Band gehört? Und wieso höre ich immer erst dann von solchen Bands, wenn’s einen davon erwischt hat? Menno 😢

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