Vor ziemlich genau 30 Jahren teilten sich meine damalige Freundin und ich einen Job als Babysitter bei einer uns über einige Ecken bekannten Architektin.
Eines Abends, als besagte Architektin nach Hause kam und uns unser Taschengeld aushändigte, kamen wir bei einem Gläschen Wein ein bisschen ins Plaudern. Sie wollte wissen, was wir so machen und was wir im Leben so vorhätten, und wahrheitsgemäß erzählten wir, dass wir gerade unser Abitur machen würden, dass wir beide künstlerisch tätig waren (meine damalige Freundin in bildenden Künsten, ich in meinem ersten Studioprojekt), und dass wir nur ein paar Tage zuvor mit tausenden anderen zusammen auf die Straße gegangen waren, um gegen die rechte Gewalt zu demonstrieren, die im September 1991 von Hoyerswerda aus die Republik erschütterte, und die erst der Anfang sein sollte in einer rechtsextremen Entwicklung in diesem Land, die sich auch die pessimistischsten Beobachter nicht vorstellen konnten.
Besagte Architektin hörte sich das alles interessiert an und seufzte schließlich sehr tief. „Ach“, sagte sie, „früher waren wir auch so engagiert. Und ich habe auch in einem kollektiven Kunstprojekt gearbeitet. Wir hatten Musik, Malerei, Tanz… aber das war irgendwann alles vorbei.“
Wir fragten, warum sie aufgehört habe, sich zu engagieren.
„Das ist eben so. Irgendwann schaust Du nur noch, dass Du im Leben irgendwie zurecht kommst…“
Ich kann mich noch deutlich erinnern, wie sehr mich das damals störte. Nicht so sehr die Aussage an sich, dass sie diese Dinge nicht mehr tun würde, weil das Leben Anforderungen an sie stellte, die diese Freiräume nicht mehr zuließen – sondern viel mehr, weil sie es sagte, als sei dies ein ganz selbstverständlicher Grundbestandteil der Wahrheit unserer Existenz.
Meine damalige Freundin und ich, wir redeten danach noch sehr lange darüber, und wir machten den feierlichen Schwur, dass wir nie so werden würden. Dass wir immer unsere Kunst verfolgen würden, und dass wir uns immer für Themen engagieren würden, die uns am Herzen liegen.
Tja, was soll ich sagen, es ist genau so gekommen. Wir sind beide bei der Kunst geblieben.
Aber der Preis dafür war hoch.
Denn die Architektin sprach die Wahrheit – irgendwann schaust Du nur noch, dass Du im Leben irgendwie zurecht kommst.
Als frisch verliebter Jugendlicher macht man sich diese Dinge nicht so sehr bewusst, aber Tatsache ist, dass wir in einem System leben, das uns von Kind auf lehrt, dass mehr immer besser ist; dass das Ziel im Leben sein muss, das Meiste vom Kuchen abzubekommen. Ein System, das uns dazu ermutigt, uns mit anderen zu vergleichen und in Konkurrenz zueinander zu stehen, statt uns gegenseitig zu ermutigen und das Andere zu umarmen. Ein System, das nur Gewinner sehen möchte und alles was „anders“ ist, unter den Tisch kehrt, es sei denn, es gibt eine Möglichkeit, mit „anders“ irgendwie Kohle zu machen.
Und auch später sind diese Tatsachen nicht offensichtlich, sie schleichen sich still und leise in das eigene Dasein, bis sie ganz normal geworden sind. Erfolg ist wichtig. Viel verkaufen ist wichtig. Gut ankommen ist wichtig. In Instagram ein möglichst perfektes Leben präsentieren ist wichtig. Mehr Likes haben ist wichtig. Einen besseren Job haben ist wichtig. Ein fetteres Auto fahren ist wichtig. Mehr Geld haben ist wichtig.
Und so weiter und so fort, das sind alles Binsenweisheiten, ich weiß.
Aber das Perfide ist: Selbst wenn Du wie selbstverständlich dagegen bist, fressen sie sich doch in die Seele wie Fastfood, und machen Dich kaputt. Wenn Du merkst, dass Du einfach nicht vorwärts kommst, egal wie sehr Du es versuchst. Wenn Du merkst, dass Kreativität in dieser Gesellschaft eben nur dann etwas wert ist, wenn Du damit erfolgreich bist, und Du anderenfalls wahlweise belächelt oder bemitleidet wirst. Wenn Du beobachtest, wie die Gesichtszüge Deines Gegenübers, wenn Du ihm erzählst, dass Du Dich als Künstler siehst, auf die gleiche Art und Weise entgleiten als hättest Du behauptet, Du sähest Dich als lilafarbenes Einhorn, das beruflich in einem gläsernen Block Holz der Stratocumulus-Ernte frönt.
Und dann stehst Du da und schaust auf Dein Leben und auf das Deiner ehemaligen Weggefährten, und plötzlich stellst Du fest: What the fucking fuckedy fuck! A hat gerade bei Google angefangen. B arbeitet bei Meta. C hat gerade das zweite Kind aus einer toxischen Beziehung und verbreitet auf Instagram Bilder von ihrem perfekten Leben. D hat sich gerade einen Tesla gekauft, und E baut gerade ein Haus für eine dreiviertel Million Euro.
Und, niemand von denen hört noch (oder hörte überhaupt jemals) Deine Musik, interessiert sich dafür wie es Dir geht oder würde auf die Idee kommen, auf die Straßen zu gehen, weil beispielsweise die Grünen gerade mal wieder ihre Wähler verraten haben.
Und dann stellst Du fest, irgendwo berührt Dich diese Scheiße viel mehr als sie sollte.
Denn einerseits tust Du unterbewusst genau das Gleiche, auch wenn Du noch so sehr versuchst, Dir das Gegenteil einzureden: Irgendwo vergleichst Dich. Wunderst Dich, wie sich jemand, der nicht den Unterschied zwischen Compiler und Editor weiss, und dem Du damals durch die Info-Klausur helfen musstest, heute eine Luxusvilla bauen kann.
Und andererseits kannst Du niemandem von diesen Leuten ernsthaft böse sein. Sie alle haben es versucht, und sie alle haben einsehen müssen, es ist leichter und wesentlich angenehmer, sich in das System zu integrieren, als abseits davon zu stehen, belächelt und/oder bemitleidet zu werden, und ab und zu auf dem Blog in den Kommentaren lesen zu müssen, dass sich durch alles hier ja so eine gewisse Schwere zieht und wie schade das sei und dass Du Dir Hilfe suchen sollst.
Es ist leicht, zu denken, Menschen würden ihre Ideale verraten. Aber die Wahrheit ist, die Erwartungshaltungen, in die wir vom System hinein manipuliert werden, sind so unerbittlich und so grotesk herzlos, dass Verrat manchmal wie der einzige Ausweg erscheint.
Tja, und das System, meine Damen und Herren, ist natürlich der Kapitalismus, so wie er bei uns gelebt wird. Da gibt’s nicht viel zu diskutieren oder zu beschönigen.
Und das wäre, wenn es nicht so fatal wäre, sogar echt lustig. Denn wir leben in einer Zeit, in der immer mehr Menschen zu der erstaunlichen Einsicht gelangen, dass wir alle manipuliert werden. Und dann erzählen sie, wenn man großes Pech hat, irgendwas von Impfterrorismus, und davon, dass der Ukraine-Krieg uns gar nichts angeht und dass Putin eigentlich ganz in Ordnung ist. Und davon, dass die Republik eigentlich gar nicht existiert, dass die Juden alles kontrollieren, dass die Ausländer alles kriegen, und dass Bill Gates zusammen mit der Rothschild-Family Microchips implantiert, und die Reptiloiden, und so weiter und so fort.
Natürlich sind die Grenzen fließend. Nicht jeder Verschwörungsanfänger mutiert schließlich zum voll ausgestatteten Aluhut-Vollspacken im Endstadium.
Aber es ist schon gespenstisch: damals, vor 30 Jahren, als meine Exfreundin und ich gegen die Nazis in Hoyerswerda demonstrierten, hörte man derlei Geschwafel nur an wenigen, ausgewählten Plätzen, und nur von wenigen, gesellschaftlich isolierten und bedauernswerten Gestalten.
Heute hört man es ganz selbstverständlich von Frau S. in ihrer Hundeboutique, vom Nachbarn um die Ecke und von gefühlt jedem dritten Kommentator in den sogenannten sozialen Medien.
Im argumentativen Kern all dieser Theorien findet sich immer wieder eine zentrale Aussage: Wir werden alle manipuliert.
Und das ist einfach verdammt witzig, weil es stimmt.
Nur halt ganz anders, als sie sich das vorstellen.
P.S.: Warum ich dies alles hier schreibe? Zwei Gründe. Erstens: Auf Mastodon gab es heute morgen, inspiriert von einem schönen Song von David Bowie, eine kleine Diskussion darüber, wie Menschen ihre Ideale verraten, wie sie sich auf einflussreichen Positionen wieder finden und genau die gleichen Fehler wieder machen, wie diejenigen, deren Positionen sie früher verachtet haben.
Aber ich muss zugeben, ich verstehe, wie es dazu kommen kann. Leider nur allzugut.
Und zweitens: Ich führe gerade einen kleinen Kampf mit meiner Musik, denn ich stelle immer mehr fest, wie sehr weit fortgeschritten ich auf dem Holzweg schon war. Es wird Zeit, die Dinge aus meinem Leben (und meiner Musik) zu verbannen, die ich nur mache, um anderen zu gefallen und Erfolg zu haben. Bewusst ist mir das schon lange, aber es ist bemerkenswert, wie sehr sich das Bedürfnis, „mehr zu erreichen“ und „gut dazustehen“ im Unterbewusstsein verankert, selbst wenn man sich in einer Nische bewegt.
Schreibe einen Kommentar