Am Nachmittag unseres zweiten Tages auf der Insel gehe ich erstmal im örtlichen Edeka Vorräte einkaufen. Die Filiale in Utersum ist klein und knuffig, so wie man sie früher hier auf dem Land auch hatte, bevor sie Discountern und Nachteil-Centern weichen mussten.
Während ich also auf die Jagd nach Gemüse und Nudeln gehe, erklingt aus den Lautsprechern der Filiale eine Sendung des lokalen Radios. Es geht um alte Freunde – erzählt wird die Geschichte von zwei Männern aus einer nordfriesischen Gemeinde, die seit 70 Jahren miteinander befreundet sind. Sie haben sich auf der Schule kennengelernt, haben dann alles Mögliche zusammen erlebt, sind jetzt beide über 80 und sehen sich immer noch regelmäßig.
Ich lege meine Vorräte in den Einkaufswagen, gehe zur Kasse, bezahle, und denke nicht weiter über die Sendung nach.
Später am Tag dann gehe ich mit Candor K. noch eine Runde zum Strand.
Die Insel Föhr hat im Februar einen ganz unschätzbaren Vorteil, und ich traue mich eigentlich kaum, diesen Geheimtipp hier zu offenbaren, aber sei’s drum: Man ist allein und hat seine Ruhe. Man kann problemlos mit seinem Hund kilometerlang den Strand entlang laufen, ohne auch nur eine einzige Menschenseele zu treffen.
Und während wir da so laufen, mein alter vierbeiniger Freund und ich, und wie wir den eifrigen Unterhaltungen der Möwen und Austernfischer, sowie dem Säuseln der beginnenden Flut lauschen, muss ich plötzlich an die anderen, zweibeinigen Freunde in meinem Leben denken, und an die Radiosendung im Edeka.
70 Jahre.
Wow.
Eine für mich nahezu unglaubliche Zahl, eine Zahl, wie aus einem Märchen, denke ich mir. Niemals würde ich mit irgendjemandem 70 Jahre lang befreundet sein. Oder 50. 30 ist auch schon sehr unrealistisch. Außer vielleicht bzw. hoffentlich mit Frau K., aber die ist auch viel mehr als nur ein Freund, wenn man das so sagen kann.
Ich schaue rüber nach Amrum, beobachte den Leuchtturm, der sein Licht im gleichmäßigen Takt zu uns herüber wirft… und denke zurück an die Schule, wo alles anfing mit den Freunden. Oder besser gesagt, wo es eben nicht anfing, denn ich hatte keine Freunde auf der Schule. Ich war der klassische Außenseiter. „Freunde“, das war ein Konzept, das ich hauptsächlich aus den Kinder- und Jugendbüchern kannte, die ich damals las.
Und was ich da las, das weckte in mir bald eine große Sehnsucht nach richtigen Freunden. Allein, auf meiner Schule stand stattdessen die tägliche Portion Demütigung, garniert mit einer Prise Gewalt, auf dem Programm, und die folgenden Jahre wurden sehr hart, wobei mich ständig die Frage begleitete, was eigentlich falsch an mir war, dass alle auf mir herumprügelten.
Als ich dann endlich meine Schule verließ und zu meiner großen Überraschung gewahr wurde, dass nicht ich es gewesen war, an dem irgendetwas falsch war, sondern dass es sich vielmehr bei meinen Mitschülern einfach nur (und das schreibe ich ohne jegliche ironische Überspitzung) um ein Rudel sadistischer Idioten gehandelt hatte, da eröffnete sich mir eine Welt, die ich vorher nicht für möglich gehalten hatte – und endlich machte ich meine ersten Erfahrungen mit echten Freundschaften.
Es war eine wunderbare Zeit – als hätte man ein Tier in Gefangenschaft ins Paradies freigelassen.
Ich hätte für meine ersten Freunde alles getan. Endlich hatte ich so etwas wie aus den Büchern. Jemand, mit dem man Abenteuer erlebt und Großes vollbringt und Dinge entdeckt und so weiter und so fort. Oder zumindest dachte ich so. Aber natürlich ändern sich Menschen und Interessen, gerade in jungen Jahren, und so gingen viele Freundschaften mit der Zeit wieder auseinander. Was mich immer besonders schwer traf, denn Freundschaften, so hatte ich mir immer erträumt, sind doch etwas ganz besonderes, und… nun ja, irgendwie war es immer schwierig mit mir und Freunden. Entweder ich wurde von ihnen ausgenutzt, weil eben schnell deutlich wurde, dass ich alles für sie tun würde. Oder ich mutete ihnen zu viel zu, weil für mich ja völlig klar war, sie dürfen mir jederzeit ganz genau so viel zumuten.
Heute denke ich, dass meine frühkindliche Sehnsucht nach Freunden dafür gesorgt hat, dass ich später im Leben nie so richtig einen Anker gefunden habe, an dem ich das Konzept Freundschaft festzurren konnte. Und so hagelte es Enttäuschungen.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie während des Studiums mal im Raum stand, dass wir als „Clique“ eine WG gründen wollten. Irgendwann drang dann an mein Ohr, dass eine gewisse Florence dagegen war, mich mit aufzunehmen, weil sie mich irgendwie komisch fand. Ich weiß noch, wie ich am Boden zerstört war. Florence war doch eine Freundin. Wir waren doch alle Freunde. Wie konnte sie nur?
Es war nicht der erste und nicht der letzte Vorfall dieser Art. Nicht wenige Leute, die heute in Heidelberg bei SAP und Co. hohe Positionen bekleiden, haben ihr Studium nur geschafft, weil ich ihnen damals durch die Informatik-Klausuren half. Als ich dann aber plötzlich Arbeit suchte und gezwungen war, aus Heidelberg weg zu ziehen, war kein einziger davon in der Lage, mir zu helfen. Wie konnte das nur sein? Das waren doch meine Freunde!
Und so lernte ich mit der Zeit, vorsichtig zu werden. Nicht zu viel zu erwarten, nicht voreilig Menschen als „Freunde“ zu bezeichnen.
Trotzdem, bei ausgewählten Menschen tat ich es immer wieder.
Zum Beispiel bei C., meiner Freundin aus Studienzeiten, der ich hier vor ein paar Monaten schon einmal einen ganzen Artikel gewidmet habe, und die mich – grob zusammengefasst – fallen ließ, weil sie mich in die Tatsache eingeweiht hatte, dass der Mensch, mit dem sie heute eine Familie hat, so richtig scheiße mies zu ihr war.
Oder bei F., meinem Freund aus der Zeit, als ich ins Rheinland zog. F. half mir durch schwere Herzschmerz-Zeiten, er bekam es mit, wie ich Frau K. kennen lernte, uns verband so viel, philosophisch, menschlich… und eines der letzten Male in meinem bisherigen Leben dachte ich, wir würden sicherlich ewig befreundet bleiben.
F. wohnt inzwischen in einem weit entfernten Land und arbeitet für ein großes Unternehmen, dessen Dienstleistung jeder von euch täglich benutzt. Von dem Umzug habe ich nichts mitgekriegt, auch nicht von seiner zweiten Hochzeit. Irgendwann war einfach Schluss.
Naja, nicht irgendwann, sondern ziemlich genau um den Zeitpunkt herum, als er sich von seiner damaligen Frau trennte – Ein Muster, das ich öfter beobachten konnte: Wenn sich die Lebensumstände ändern, dann trennt man sich auch gerne gleich mit von den alten Freunden, die einen an die alten Lebensumstände erinnern.
Aber so ganz kann das nicht richtig sein, denn mit einem gemeinsamen Freund von damals ist F. immer noch befreundet und in regem Austausch. Besagter gemeinsamer Freund wurde auch zur Hochzeit eingeladen, ich aber nicht. Hmmm. Also muss es doch an mir liegen. Irgendetwas habe ich falsch gemacht. Vielleicht, weil ich nach dem Tod meiner Eltern nicht mehr so lustig war wie vorher, und so sehr mit mir selbst beschäftigt? Aber wenn das der Grund war, war F. dann wirklich jemals mein Freund? Oder habe ich einfach wieder viel zu viel erwartet?
Und da sind wir wieder. Irgendwie beherrsche ich das nicht mit Freundschaften.
Außer natürlich mit dem alten Mann, der neben mir am Strand hertrottet. Er wird mit mir durch dick und dünn gehen, und egal was passiert oder wie ich mich benehme, er wird mir immer zur Seite stehen.
Und wenn er nur könnte, dann würde er das auch 70 Jahre lang machen.
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