V.
An einem heißen Samstag im Spätsommer machten wir uns also in Helenas altem VW Polo auf die Reise nach Bayern – ausgerüstet mit Karten, Proviant und einem schicken Nokia-Handy, das sich Helena extra zu diesem Anlass gekauft hatte (man erinnere sich, es war um die Jahrtausendwende, und bis dahin hatte niemand von uns beiden ein Mobiltelefon besessen).
Wir wechselten uns beim Fahren ab, gingen noch mal genau durch, was unsere Optionen waren und wie wir uns verhalten würden.
Klar war, Helena würde Nicole an einem noch zu vereinbarenden Treffpunkt abholen, und sie würde erstmal allein den Kontakt herstellen, damit Nicole nicht etwa aus Angst einen Rückzieher machen würde.
Ich hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Meine Therapeutin hatte mir dringend dazu geraten, mich auf keinen Fall ebenfalls in diese Geschichte mit reinziehen zu lassen, und dennoch hatte ich genau das getan.
„Danke, dass Du bei mir bist“, sagte Helena irgendwann während der Fahrt noch mal zu mir. „Ich würde das allein nicht durchstehen“. Sie schaute mir in die Augen, und da war kein Hintergedanke, kein Analysieren, kein Beobachten meiner Reaktion, keine Angst, etwas falsches zu sagen, kein auf der Lauer liegen.
Sie klang beinahe wieder wie früher, und es war zwischen uns beinahe wieder wie früher. Wir unternahmen zusammen etwas, mit einem gemeinsamen Ziel… ohne dass vermeintliche unerforschte Wunden aus der Kindheit oder sonstiger pathologisierter Psychoquatsch zwischen uns stand.
„Ist doch selbstverständlich“, sagte ich und drehte das Autoradio noch ein bisschen lauter.
Es lief „Californication“ von den Red Hot Chilli Peppers, das Album war damals gerade neu rausgekommen, und wir gasten mit 130 Sachen über die Autobahn – die Höchstgewschwindigkeit, zu der „Fancy“, so unser Name für Helenas Polo, imstande war.
Einmal wurden wir von der Polizei angehalten… was wir durchaus gewohnt waren. Helena und ich, wir sahen damals aus wie ein Hippie-Pärchen, ich hatte lange Haare und einen Pferdeschwanz, trug lange, bunte Hemden und nicht selten (wenn auch nicht auf dieser Fahrt) ein Stirnband. Helena trug Batik-Röcke und Batik-Hemden, und kleine, mit bunten Fäden zusammengebundene Zöpfchen in ihrer kurzen Bob-Frisur. An der Heckscheibe des Wagens hing ein Plakat, das in großen roten Buchstaben „NO WAR FOR OIL“ verkündete, und darunter hatte Helena ein Peace-Zeichen gemalt.
Das war genug, um ungefähr einmal alle zwei Wochen unseren „Freund und Helfer“ auf den Plan zu rufen und uns und unsereren fahrbaren Untersatz nach Drogen durchsuchen zu lassen. Wenn ihnen gerade langweilig war, dann liessen mich die Herren in Uniform auch schon mal eine gerade Linie auf dem Seitenstreifen laufen und ähnliche Späße mehr. Damals hatte ich aufgrund dieser ständigen und vollkommen willkürlichen Schikane einen regelrechten Hass auf die Polizei entwickelt.
Ich hatte ja keine Ahnung, wie sehr ich die Polizei am Ende unserer Geschichte, viele Monate später, schätzen lernen sollte.
Gegen Nachmittag kamen wir schließlich in dem mittelgroßen Dorf an, zu dessen evangelischem Pfarrer wir vor wenigen Wochen einen Kontakt hergestellt hatten. Herr Lorenz war ein sehr sympathischer, herzlicher, offener und direkter Mann mittleren Alters, ergraut, mit Halbglatze und ein paar Pfunden zu viel auf den Rippen… genau so, wie man sich einen bayerischen Dorfpfarrer vorstellte… ausser, dass man sich einen bayerischen Dorfpfarrer normalerweise katholisch und ohne Ehefrau vorstellte.
Er begrüßte uns mit ausgebreiteten Armen und einem warmherzigen Lächeln.
„Schön dass ihr da seid… wir hatten uns schon Sorgen gemacht. Hattet ihr denn eine gute Reise?“
Wir bedankten uns, und schüttelten gegenseitig die Hände.
„Ich bin Franz, das hier ist Annegret, meine Frau“, sagte Herr Lorenz und machte den Hauseingang frei, so dass uns seine ebenso herzliche wie stämmig gebaute, dunkelhaarige Frau, ebenfalls begrüßen konnte. „Wenn ihr nicht darauf besteht, brauchen wir uns nicht siezen und all das“, ergänzte Herr Lorenz.
„Das ist prima so…“, entgegnete Helena freudestrahlend. „Das ist Stephan, ich bin Helena.“
„Dann kommt erst mal rein, ihr habt sicher Hunger… und dann quatschen wir mal eine Runde…“, sagte Herr Lorenz.
Franz und Annegret waren wirklich die nettesten und entgegenkommendsten Menschen, die man sich vorstellen konnte. Der herzliche Empfang tat uns gut, wir wurden reichhaltig mit Speisen und Getränken bewirtet… wir hatten viele interessante Gespräche, Helena konnte von ihrem Studium erzählen und ich von meiner Musik… und als der Abend näher kam, da waren wir alle zuversichtlich, dass wir Nicoles Märtyrium heute zusammen beenden würden.
Franz und Annegret hatten ein zusätzliches Gästezimmer hergerichtet, so dass Nicole bei ihnen übernachten können würde, und Franz hatte sich mit der Hilfeeinrichtung für junge Frauen in Not in Straubing in Verbindung gesetzt, um sicher zu stellen, dass diese auf Nicoles Eintreffen an einem der nächsten Tage vorbereitet sein würden.
Nicole und ihre Familie wollten um 18h losfahren. Also rief Helena, wie verabredet, um 17.00h vom Handy aus bei Nicole an, um mit ihr auszumachen, wo sie sich treffen würden.
Das Problem war nur, Nicole ging nicht ans Telefon. Sie ging auch zehn Minuten später nicht ans Telefon, und auch nicht die nächste Stunde über und auch nicht die nächsten vier Stunden über.
Helena probierte es weiter, pausenlos… nichts.
„Hm, das ist jetzt weniger schön“, entfuhr es Franz irgendwann. Die erste Stunde hatten er und Annegret noch bei Helena ausgeharrt, aber Annegret war irgendwann in die Küche gegangen, und jetzt setzte sich Franz ebenfalls in Richtung Küche in Bewegung.
„Wollt’s auch ein Bier?“ fragte er in unserer Richtung.
Helena schüttelte den Kopf und drückte sicher zum hundertsten Mal auf die Wahlwiederholung. Ich sagte „ja, gerne“.
Mit zwei Gläsern und zwei Flaschen kam Franz zu uns an den Wohnzimmertisch zurück, ließ sich aufs Sofa plumpsen, öffnete die Flaschen und schenkte sich und mir ein.
„Ich verstehe das nicht…“ sagte Helena verwirrt… „Wir hatten fest ausgemacht, dass ich sie anrufe… da muss etwas passiert sein, ansonsten würde sie doch rangehen… das ist doch wichtig für sie…“
„Vielleicht hat sie Angst, es wirklich zu tun…“ vermutete ich.
„Kann durchaus sein“, pflichtete Franz mir bei. „Telefonanrufe sind eine Sache… aber dann wirklich etwas unternehmen, den Schritt wirklich gehen, das ist nochmal was ganz anderes…“
„Nein, das ist es nicht, Nicole redet auch mit mir wenn sie Angst hat, sie vertraut mir“, widersprach Helena prompt und energisch.
Franz nickte wissend, und ich glaubte, in seinem Gesichtsausdruck noch etwas anderes außer Verständnis zu spüren.
„Dann können wir nichts anderes tun, als es weiter zu versuchen… eine andere Telefonnummer habt ihr nicht?“
„Nein, nur diese… Nicoles Handynummer“, antwortete ich.
Helena versuchte es wieder und wieder.
„Habt’s ihr irgendwann in Betracht gezogen“, fragte mich Franz schließlich, als wir draußen auf der Terrasse unter uns waren, „dass diese Nicole euch vielleicht an der Nase rumführt?“
Ich schaute ihn an. „So ein ganz kleines bißchen hatte ich tatsächlich schon diese Befürchtung…“, antwortete ich. Und ich berichtete ihm davon, wie Nicoles Situation meiner Meinung nach immer dann schlimmer zu werden schien, wenn Helena Zeit für sich in Anspruch nehmen wollte.
Franz nickte. Er wollte noch etwas sagen, doch in diesem Moment ertönte von drin Helenas gleichermaßen besorgte wie erleichterte Stimme:
„Nicole, da bist Du ja endlich! Ich hab die ganze Zeit versucht, Dich anzurufen… geht es Dir gut? Ist etwas passiert? Wo bist Du?!“
Franz und ich stürmten zurück in die Wohnung, Annegret war schon da und hatte Helena geistesgegenwärtig einen Notizblock und einen Kugelschreiber hingelegt.
Helena lauschte lange an ihrem Handy. Ab und zu sagte sie „ja“, „ich verstehe“, „ok“ und derlei mehr. Schließlich nahm sie den Stift und schrieb darauf:
Sie hat sich nicht getraut zu gehen.
Sie sind jetzt bei ihrer Oma
Einige Zeit später ergänzte sie:
Ihr Stiefvater hat sie bedroht
Und wieder einige Zeit später:
Sie hat sich auf dem Klo eingeschlossen
Noch mal vergingen die Minuten. Helena wurde nun sehr aufgeregt, sie stand auf, sie setzte sich wieder hin.
„Lass uns weiter reden… ich bin da… ich bin ganz in Deiner Nähe“, sagte sie. „Ich würde Dich so gerne kennen lernen… hier ist eine Katze, magst Du Katzen?“
Und währenddessen schrieb sie auf den Zettel:
SIE HAT DIE HERZTABLETTEN IHRER OMA
SIE WILL SIE ALLE NEHMEN
Franz und ich schauten uns an.
Er stand auf und bedeutete mir, mit ihm zu kommen. Zusammen gingen wir nach nebenan in den Flur.
„Was jetzt?“ fragte ich.
„Jetzt… rufen wir die Polizei“, sagte er langsam, aber bestimmt.
„Das wird Helena aber nicht gut finden“, wand ich ein.
Ich hatte Helena schon vor einigen Wochen einmal vorgeschlagen, die Polizei einzuschalten. Helena hatte ein solches Vorgehen damals mit einem Hinweis auf das „Vertrauen“, das zwischen Nicole und ihr bestand, ganz vehement abgelehnt.
„Lass das meine Sorge sein“, antwortete Franz, und wir gingen ins Wohnzimmer zurück.
Franz schrieb auf den Zettel:
Rufe die Polizei. Brauche Nicoles Nummer.
Zu meinem Erstaunen nickte Helena und schrieb Nicoles Handynummer auf den Zettel, während sie weiterhin beruhigend auf sie einredete. Entweder sie vetraute Franz’ Meinung einfach mehr als meiner, oder die Situation war so unglaublich stressig, dass sie einsah, dass sie Hilfe brauchte. Auf jeden Fall schnappte Franz den Zettel und verschwand in Richtung Flur. Ich folgte ihm.
Nach nur wenigen Augenblicken hatte er die Straubinger Polizei am Telefon. Er erzählte kurz und knapp, worum es ging, betonte noch einmal dringend die bestehende Suizidgefahr, gab erst seine eigene und dann Nicoles Nummer durch, und legte dann schließlich auf.
„Die machen eine Ortung und fahren dann mit dem Notarzt hin. Die Ortung geht schnell, aber Nicole muss davon abgehalten werden, sich etwas anzutun“ sagte er und zeigte mit der Hand ins Wohnzimmer.
Ich nickte, eilte ins Wohnzimmer und schrieb auf einen neuen Zettel:
Handy wird geortet. Polizei kommt.
Sie darf die Tabletten nicht schlucken.
Helena nickte und redete weiter. Sie redete mit Nicole darüber, was sie in der Schule durchgenommen haben, und wo sie am liebsten Urlaub macht. Sie redete gut und gerne noch zwanzig Minuten, und schließlich setzte bei ihr eine gewisse Erleichterung ein.
„Siehst Du“, sagte sie. „Weisst Du was, ich bleibe hier… so lange es sein muss… und vielleicht können wir uns ja dann morgen treffen… oder übermorgen. Du musst auch nirgendwohin mitkommen, einfach nur damit wir uns sehen? Aber Du darfst die Tabletten nicht nehmen, versprichst Du mir das? Gut. Sehr gut. Du kannst mich jederzeit wieder anrufen, ja?“
Erschöpft beendete sie das Gespräch und legte das Handy auf den Tisch.
„Sie hat gesagt, ihre Mutter hätte ihren Stiefvater nach Hause geschickt, und sie würde die Tabletten nicht nehmen, und sie meldet sich wieder… puh… was hat sich bei euch ergeben?“
„Vermutlich ist die Polizei schon unterwegs“, berichtete Franz.
„Oh Gott… hoffentlich war das kein Fehler“, sagte Helena.
„Die Polizei einzuschalten wenn jemand drauf und dran ist, Selbstmord zu begehen, das kann kein Fehler sein“, anwortete Franz.
„Tja, aber was wird jetzt werden…?“ fragte Helena
„Ich bin mir nicht sicher, ob wir das überhaupt erfahren werden“, sagte Franz.
Doch genau damit sollte er Unrecht behalten, denn nach einer weiteren Stunde klingelte das Telefon im Hause Lorenz.
Franz stürmte in den Flur und hob ab. „Hallo?“ sagte er, und im nächsten Moment entglitten ihm sämtliche Gesichtszüge.
„Trier?“ fragte er ungläubig ins Telefon.
„Ja… also…“ sagte er schließlich, lauschte, nickte mit dem Kopf, nickte wieder mit dem Kopf, schüttelte schließlich den Kopf. Er nahm ein Stück Papier und machte sich hastig einige Notizen darauf.
„Aber das kann nicht sein… kann das sein…?“ sagte er. Wieder hörte er lange hin.
Und schließlich: „Ja, die ist hier, ich gebe Sie weiter, einen Moment…“
Er hielt die Sprechmuschel zu. „Helena? Hier ist die Kriminalpolizei Trier, sie würden gerne mit Dir reden.“
Wie betäubt nahm Helena den Hörer in Empfang, während Franz zurück zu uns ins Wohnzimmer kam.
„Die Kriminalpolizei Trier hat das Handy geortet, in einem großen Wohnviertel in Trier“, antwortete er auf Annegrets und meine fragenden Blicke.
„Was?!“ fragte ich ungläubig.
„Ja. Knapp fünfhundert Kilometer von hier. Das Handy befand sich in einer Wohngemeinschaft von vier Frauen, es gehört einer gewissen…“, er schaute auf seinen Zettel, „…Martina Ebert, die ebenfalls anwesend war. Frau Ebert und die anderen drei Frauen haben angegeben, noch nie etwas von einer Nicole oder von Helena gehört zu haben.
Der Beamte am Telefon vermutet, dass wir von einer dieser Frauen verarscht wurden… und dass es sehr, sehr teuer werden wird.“
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