IV.
„Scheiße, scheiße, scheiße, das war ein Fehler! Mist!“
Helena war komplett aufgelöst, als wir uns die folgende Woche zu einem Mittagspausen-Spaziergang am Fluss trafen. Ich brauchte nicht lange, um herauszubekommen, was schief gelaufen war.
Nicole hatte noch einige Male mit Helena telefoniert, und Helena hatte zu einem ihr günstig erscheinenden Zeitpunkt die Möglichkeit erwähnt, dass Nicole sich auch an Herrn Lorenz wenden könne und dieser ihr gerne helfen würde.
Nicole hatte alles andere als positiv reagiert. „Du willst mir gar nicht helfen, Du willst mich loswerden!“ hatte sie Helena daraufhin vorgeworfen und dann einfach aufgelegt.
„Und das“, sagte Helena verzweifelt, „wo ihre Mutter doch diese Woche verreist und sie allein mit ihrem Stiefvater ist…“
„Warte mal, die meldet sich sicher wieder…“ versuchte ich, Helena zu beruhigen.
Doch Helena war mächtig durch den Wind. „Mensch, wenn ihr was passiert, dann bin ich mit schuld daran…“, sagte sie.
„Wenn ihr was passiert, dann ist ziemlich genau ihr Arschloch von einem Stiefvater schuld… aber nicht Du!“ sagte ich.
Und als Helena nichts weiter sagte, fügte ich noch hinzu: „Ich finde trotzdem, dass es eine gute Idee war…“
„Das war ne Scheißidee!“ entgegnte Helena wütend.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also liefen wir eine Weile schweigend nebeneinander her.
„Hast Du ihre Telefonnummer? Kannst Du sie vielleicht zurückrufen?“ schlug ich schließlich vor.
„Nein, die hat sie mir nicht gegeben…“
Wieder Schweigen.
Ich fand es ebenso bemerkenswert wie besorgniserregend, wie heftig Helena auf den Kontaktabbruch reagierte. Doch ich tat mein bestes, mir meine Gedanken nicht anmerken zu lassen.
„Weisst Du was? Ich gehe zurück… vielleicht ruft sie ja noch an…“
Ich nickte und lief allein zum Campus zurück. Widerspruch wäre eh sinnlos gewesen.
Zu Helenas großer Beruhigung meldete sich Nicole am Abend wieder, und einmal mehr wurde lange telefoniert. Es war glücklicherweise nichts Schlimmes passiert, und sie hatten ausgemacht, in Kontakt miteinander zu bleiben. Herr Lorenz wurde nicht mehr als Alternative ins Spiel gebracht.
Die nächsten Wochen wurden schwierig.
Es stellte sich bald heraus, dass die Häufigkeit der Nicole-Anrufe zu den Wochenenden hin – also dann, wenn Helena und ich Zeit miteinander verbringen wollten – deutlich zunahm. Ebenso verstärkte sich die Tragweite der Geschichten, die Nicole berichtete.
Unter der Woche ging es meistens nur um allgemeine Dinge, und um Nicoles Angst… und es wurde ein- bis zweimal telefoniert. Doch zum Freitag hin stand das Telefon oft nicht mehr still, und die Schreckensszenarien reichten vom Streit mit dem angetrunkenen Stiefvater über eine weitere Ohrfeige von der Mutter bis zur unverhohlenen Drohung des Stiefvaters, demnächst wieder übergriffig zu werden… alles immer schön knapp vor dem Wochenende. Und inzwischen hatte Helena auch Nicoles Telefonnummer und rief nicht selten von sich aus zurück, wenn Nicole sich nach einer alarmierenden Entwicklung zu lange nicht gemeldet hatte.
In mir keimte allmählich ein Verdacht. Es sah mir immer deutlicher danach aus, als ob der Horror und seine Dosierung durchaus Methode hatten… als ob sie dazu da wären, sicher zu stellen, dass Helena allein für Nicole da war, und für niemanden sonst.
Da Helena mir nun schon mehrmals auf sehr direkte Weise vermittelt hatte, dass ich mit meinen Wünschen und Bedürfnissen zurückzustehen hätte, und da ich damals durchaus glaubte, tatsächlich zu viel zu wünschen und zu viel zu bedürfen, kam ich mir dafür schäbig und egoistisch vor. Aber ich konnte es nicht ändern.
Meine Therapeutin war der einzige Mensch, dem ich von meiner Vermutung erzählte.
„Es ist möglich…“, sagte sie damals. „Es kommt vor, dass sich Missbrauchsopfer manipulativ verhalten… aber das ist dann meistens…“
Sie hielt inne und dachte nach. Schließlich sagte sie:
„Ich halte es für sehr wichtig, dass Sie sich aus dieser Sache so weit wie möglich raushalten… ich kann keine Ferndiagnose stellen, aber es ist nicht richtig, was da passiert…“
Ich nickte. Es leuchtete mir ein. Ich hatte keine Ahnung, dass ich nur einen Monat später bis zum Hals in der Geschichte drinstecken würde.
Die Wochen zogen ins Land, und es fielen reiheweise gemeinsame Wochenenden aus… entweder wegen Nicole, oder weil Helena mit ihrer Diplomarbeit nun vollends in Verzug geraten war. Und das von mir beobachtete Muster wiederholte sich ständig… wann immer Helena einen halbherzigen Versuch unternahm, ein kleines bisschen Abstand zu Nicole zu gewinnen, passierte bei Nicole irgendwas.
An einem sonnigen Septembenachmittag berichtete mir Helena wieder einmal von den neuesten Entwicklungen bei Nicole. Dieses Mal war es wirklich schlimm, und ich konnte Helena deutlich ansehen, wie fürchterlich mitgenommen sie von der Sache war.
An diesem Wochenende, genauer gesagt am Samstag Abend, hatten Nicoles Eltern geplant, Nicoles Großmutter zu besuchen um dort mit ihr am folgenden Tag ihren 80. Geburtstag zu feiern. Nicole hatte panische Angst vor diesem Termin, denn die erste Vergewaltigung war wohl auf dem großzügigen und ünübersichtlichen Anwesen ihrer Großmutter, eine Art Rest-Bauernhof noch weiter draußen auf dem Land, geschehen. Nicole hatte ihre Mutter darum gebeten, zuhause bleiben zu dürfen… woraufhin Nicoles Stiefvater ihr im Gespräch unter vier Augen Gewalt androhte, wenn sie nicht mitkommen würde… und weiter Andeutungen machte, die in die Richtung gingen, dass er eine Wiederholung der schrecklichen Tat beabsichtige.
Helena war kreidebleich und zitterte. „Er wird es wieder tun“, sagte sie verzweifelt und eindringlich, „Stephan, er wird es am Samstag wieder tun“.
Es war schrecklich. Es war schrecklich, was Nicole bevorstand, und es war schrecklich, Helena so zu sehen. Ich weiß nicht mehr, welcher von beiden Umständen mich dazu brachte, aber auf jeden Fall sagte ich:
„Ok, das geht so nicht weiter, sie muss raus da. Wir müssen sie da rausholen.“
„Ja… aber wie nur…?“
„Du sagst, sie vertraut Dir?“
„Ja“, antwortete Helena.
„Dann frag sie, ob sie Dich sehen mag… Du könntest Dich mit ihr auf neutralem Grund treffen, und wir könnten sie dann zusammen in Sicherheit bringen…“, sage ich, ohne dass ich wusste, was in mich gefahren war.
„Du meinst… hinfahren?“ fragte Helena.
„Ja, hinfahren. Nach Bayern. Wir beide.“
„Du würdest mitkommen…? Aber dazu müssten wir erstmal einen Plan haben…“, sagte Helena.
„Ja… pass auf… Du hast doch diesen Pfarrer ein Dorf weiter kontaktiert. Vielleicht können wir bei dem unterkommen…“
„…und der könnte auch den Kontakt zu dieser Einrichtung für Kinder und junge Frauen herstellen…“, vollendete Helena den Satz aufgeregt.
„Genau. Aber erstmal musst Du bei Nicole rauskriegen, ob ihr das überhaupt recht wäre… ob sie sich mit Dir treffen möchte…“
„Gut… ich rufe sofort an, wenn ich zuhause bin… und…“
Helena schwankte einen Schritt auf mich zu, sie war am Ende ihrer Kräfte. Ich nahm sie in den Arm und drückte sie fest an mich.
„Danke“, flüsterete sie leise.
Am gleichen Abend telefonierte Helena mit Nicole, und es stellte sich heraus, dass Nicole einverstanden war. Sie wollte Helena gerne kennen lernen, und sie wollte auf keinen Fall zu ihrer Großmutter fahren. Sie war sogar damit einverstanden, dass ich dabei bin.
Der Anruf bei Herrn Lorenz verlief ebenso positiv. Herr Lorenz war sofort Feuer und Flamme, uns bei sich aufzunehmen und uns mit allem, was in seiner Macht stand, zu unterstützen.
Wir würden Nicole treffen, und wir würden ihr helfen.
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