Ich habe diese Woche aus geschäftlichen Gründen 5 Minuten auf Twitter zugebracht; es dauerte nicht mal eine Minute, ehe ich mit der geballten „freien Meinungsäußerung“ von Impfskeptikern, AfD-Fußsoldaten, Putinverstehern, Abtreibungsgegnern und sonstigen Kotzmenschen konfrontiert wurde.
Danach war ich traurig und aufgebracht und hatte den Wunsch, der Untergang der Menschheit möge bitte sofort stattfinden und nicht erst in den nächsten 20 bis 50 Jahren.
Da es mir quasi immer so geht, wenn ich auf Twitter bin, dachte ich mir, es ist vielleicht an der Zeit, hier ein bisschen etwas über das Fediverse zu schreiben.
Was ist das Fediverse? Wikipedia sagt:
Fediverse (ein Kofferwort aus „federation“ und „universe“) oder Fediversum bezeichnet ein Netzwerk föderierter, voneinander unabhängiger sozialer Netzwerke, Mikroblogging-Dienste und Webseiten für Online-Publikation oder Daten-Hosting. Das Konzept kam 2008 mit GNU Social auf und verbreitete sich 2016 vermehrt mit Mastodon und dem 2018 vom World Wide Web Consortium (W3C) definierten Kommunikationsprotokoll ActivityPub.
https://de.wikipedia.org/wiki/Fediverse
Mit Diensten wie Mastodon und Pixelfed bietet das Fediverse eine Alternative zur schrillen Werbe- und Empörungswelt von Twitter, Facebook und Co. Und da ich von Twitter und Facebook und Co. schon seit „verified accounts“ und „promoted posts“ die Nase voll hatte, bin ich tatsächlich schon seit sehr langer Zeit bei Pixelfed und Mastodon zu finden. Anfangs nur als stiller Beobachter, seit einiger Zeit aber auch als aktiver Teilnehmer.
Es gibt leider nur wenige digital natives, die sich an die Zeit erinnern, als im Internet noch der Austausch von Informationen, Kommunikation und Kreativität im Vordergrund standen. Was daran liegt, dass dies nur ganz am Anfang so war, bevor Zuckerbergs, Bezosse und sonstige dunkle Gestalten die Kontrolle darüber übernahmen.
Das Fediverse erinnert in gewisser Weise an dieses goldene Zeitalter. Wenn man die richtige Instanz erwischt, ist Mastodon wie ein Twitter ohne Werbung, Nazis, Promoted Tweets, Crypto-Bros und Frank Thelen (und Pixelfed ist wie ein Instagram ohne Influänzer und Zillionen von Dumme-Sinnsprüche-Werbe-Accounts).
Was nach Systemkritik klingt (ist es auch) hat im realen Leben ganz deutliche, spürbare Auswirkungen. Bestes Beispiel, mein kürzlich erschienenes neues Album, welches ohne das Fediverse so nicht möglich gewesen wäre.
Mitgeholfen haben dabei nämlich drei verschiedene Parteien, die ich auf „normalen“ sozialen Medien des Jahres 2022 niemals kennengelernt hätte, weil sie in einem Berg von Werbung, Sponsored Posts und Empörungsermüdung untergegangen wären:
- Samuel von OpenMastering hat das Album mit viel Expertise und Fingerspitzengefühl gemastert – eine Aufgabe, die früher immer ich übernommen habe, die mich Wochen und meine letzten Nerven kostete, und mit der ich mich eigentlich wirklich nicht gut genug auskenne.
- MyLoFy hat wunderschöne Gitarren auf „Me Without You“ gespielt, und
- Flavigula schließlich brachte mich in Kontakt mit Submarine Broadcasting, welche das Album schließlich veröffentlichten und sich um Airplay und Promotion kümmern
Und plötzlich ist es im Netz wieder möglich, kreativ zu sein und neue Leute kennenzulernen.
Ganz ähnliche Phänomene sind bei Pixelfed zu beobachten. Im letzten halben Jahr machte ich eine Weile das Experiment, die selben Bilder zeitgleich bei Instagram und Pixelfed zu veröffentlichen. Auf Instagram hatte ich dabei viele persönliche Freunde und Real-Life-Kontakte, von denen man eigentlich hätte annehmen müssen, dass sie sich für meine Bilder interessieren. Doch weit gefehlt: Die Anzahl der Interaktionen und „Likes“ waren auf Pixelfed fast ausnahmslos höher.
Darauf angesprochen, ob sie mein Bild X denn nicht gesehen hätten, antworteten meine Instagram-Kontakte sehr oft mit: „Ah, nee, habe ich gar nicht mitgekriegt“. Natürlich nicht. Vom Algorithmus ausgesiebt und In einer Flut von Werbung und Influenza untergegangen ist das auch sehr schwierig.
Auf Pixelfed hingegen, wo keine Influenza tobt, und wo keine Werbung stattfindet, ist es selbst für einen Menschen mit chronischen Selbstvermarktungsdefiziten wie mich möglich, 290 Follower anzusammeln, von denen sich erstaunlich viele tatsächlich und ehrlich für mein Zeug interessieren.
Ist deshalb alles gut im Fediverse? Natürlich nicht. Zwei große Probleme gibt es.
Erstens sorgt die Quelloffenheit der beteiligten Frameworks und Protokolle (dies für Nicht-Techies im Detail auszuführen würde den Rahmen dieses Blogposts bei weitem sprengen) dafür, dass jeder damit machen kann was auch immer er möchte. So basiert beispielsweise Donald Trumps persönlicher Scheißebeschleuniger „Truth Social“ auf Mastodon und ActivityPub, und es ist auch gar kein Problem, Instanzen zu finden, wo sich der rechte Bodensatz in Scharen tummelt.
Glücklicherweise bietet das Fediverse – im Gegensatz zu Twitter & Co. – Verteidigungsmechanismen gegen derlei Bedrohungen. Jedem Betreiber einer Mastodon-Instanz steht es frei, toxische Instanzen zu „deföderieren“, sprich, von der Gemeinschaft der föderierten, verteilten Nachrichten abzuschneiden. Viele Instanzen haben sich dabei auf eine gemeinsame Art Kodex geeinigt, der genau festlegt, was erlaubt ist und was nicht. Der Großteil der Mastodon-Instanzen hält seine User relativ erfolgreich fern von toxischen Einflüssen. Wobei auch da natürlich intern die Diskussion darüber tobt, ob dies nun Zensur ist oder nicht.
(Meine Meinung: Es geht einfach nicht anders. Faceook und Twitter haben vorgemacht, wie wirklich alles vor die Hunde geht, wenn man der Gülle keinen Einhalt gebietet, oder sie für die Werbe-Impressions gar aktiv fördert).
Das zweite Problem ist eher technischer Natur: Wie so viel Open-Source-Software ist das Fediverse teilweise einfach noch nicht auf dem Stand der „großen“ Lösungen, es hakt hier und da, Dinge funktionieren nicht, Übersetzungen sind unfreiwillig komisch und Dienste nicht erreichbar.
Wenn dann noch das Problem dazu kommt, dass man bei manchen Instanzen vom Admin bei Schwierigkeiten praktisch nie eine Antwort bekommt (das trifft ausdrücklich nicht auf alle Instanzen zu, aber manche haben dieses Problem leider definitiv… hustpixelfed.dehusträsuper), dann trägt das nicht unbedingt zur massenhaften Konvertierung bei.
Weiss man von diesen Problemen, kann man darum herum schiffen. Und Fakt ist auch, dass das Fediverse wächst, insbesondere seitdem Twitter Elon Musk als öffentliche Penisverlängerung dient.
Das merkt man allein daran, dass viele Betreiber gerade damit beschäftigt sind, reine SEO-Accounts zu sperren – und wenn die SEO-Dullis und Social-Media-Manager eine Plattform für ihre Zwecke entdeckt haben, dann ist sie definitiv am Wachsen.
Ich persönlich habe im Fediverse zumindest vorerst meine neue Heimat gefunden.
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