Album Of The Year

Heute möchte ich nach langer Zeit wieder einmal nicht über meine eigene, sondern über „fremde“ Musik reden. Und ich höre auch schon, was ihr sagt: „Hmmm… ‚Album Of The Year‘, ist es dafür nicht ein bisschen früh im Jahr?“

Unter normalen Umständen würde ich euch recht geben, aber ab und zu kommt ein Werk um die Ecke, das ist so gewaltig, bedeutend oder berührend (oder alle 3 Dinge gleichzeitig), dass man nicht länger warten muss.

Dieses Album ist für mich „Number 8“ von Sam Brown.

Sam Brown dürfte vielen von euch, die ungefähr in meinem Alter sind, noch durch ihren soul-stimmgewaltigen Hit „Stop“ aus dem Jahre 1988 bekannt sein. Oder durch „This Love“, oder „Kissing Gate“. Oder auch durch ihre Rolle als Background-Sängerin bei so ziemlich allem, was in den 80ern bis 2000ern Rang und Namen hatte (Gary Moore, Pink Floyd, Nick Cave, George Harrison, Spandau Ballet, um nur mal ein paar zu nennen).

Dann, in den 90ern, wurde es still um Sam Brown.

Was natürlich glatt gelogen ist.

Ihr 1993er Album „43 Minutes“ ist ein gefühlvolles und intensives Meisterwerk, das zum Besten gehört, was Sam Brown musikalisch von sich gegeben hat – aber „leider“ (in wirklich augenrollenden Anführungsstrichen!) auch eines, das sich hauptsächlich mit dem Tod ihrer Mutter auseinandersetzt. Langjährige Leser dieses Blogs wissen, wie so etwas ausgeht: Fans und Plattenfirma kamen nicht damit zurecht, dass Sam Brown nicht länger vergleichsweise harmlos-unschuldige Hits über die Liebe trällerte und verweigerten ihr fortan die Gefolgschaft. Sam Brown indes kümmerte das nicht, sie kaufte die Rechte an ihrer Musik von ihrer Plattenfirma zurück und veröffentlichte das herrliche „43 Minutes“ in Eigenregie, was hierzulande natürlich kaum noch jemanden interessierte:

Musikinteressierten und Eingeweihten war der Name Sam Brown aber selbstverständlich weiterhin ein Begriff, sei es durch die nicht minder genialen Nachfolgealben „Box“ (1997) und „ReBoot“ (2000), ihre Arbeit als Backgroundsängerin, oder ihr wahrhaft geschichtsträchtiger Auftritt beim Abschiedskonzert für George Harrison, wo sie eine energiegeladene und fesselnde Version von dessen „Horse To The Water“ zum Besten gab:

Ich meine, hört euch diese Stimme an.

Und genau diese Stimme war es, was Sam Brown im Jahre 2007 verlor.

Mit einem Mal war es ihr nicht mehr möglich, Töne zu treffen oder zu halten. Niemand weiß warum, es wurden keine medizinischen Ursachen gefunden. Wirklich alle möglichen Therapien wurden ausprobiert – ohne Erfolg.

Sam Brown kämpfte in der Folgezeit nicht nur mit dem Verlust ihrer Stimme sondern auch mit schweren Depressionen. Um den Kontakt zur Musik nicht vollständig zu verlieren, startete sie einen Ukulele-Club, der lange Zeit sehr erfolgreich war, aber neue Werke gab es seit 2007 nicht mehr.

Und jetzt, 15 Jahre später, ist Sam Brown mit ihrem neuen Album „Number 8“ wieder da – und dieses Album ist ein Triumph auf ganz vielen Ebenen.

Um die vermutlich drängendste Frage gleich am Anfang zu klären: Nein, die Stimme ist nicht wieder zurück gekommen.

Doch was sich seit 2007 weiter entwickelt hat, ist die Technik. „Number 8“ wurde möglich durch Autotune.

Autotune ist eine Technologie, die in der digitalen Musikproduktion dabei hilft, Tonhöhe und Vibrato bei Gesangsspuren zu korrigieren oder künstlich zu verändern. Die Effekte reichen dabei von beinahe unbemerkbaren Korrekturen bis zu vollkommen künstlich klingendem Pesudo-Gesang. Berühmt geworden ist Autotune durch „Believe“ von Cher – und wenn die ersten Leser jetzt mit den Augen rollen, dann tun sie das vollkommen zurecht, denn Autotune hat sich über die letzten Jahre zu einem viel zu oft und viel zu heftig eingesetzten Stilmittel entwickelt, das in der Popmusik der letzten Jahre (siehe: Jason Derulo, Kanye West, Avril Lavigne, Maroon 5, etc. etc.) einfach nur noch nervt wie Hupe.

Nicht jedoch bei Sam Brown.

Sam Brown verwendet die Technologie, um sich vollständig neu zu erfinden und ihren neuen Songs trotz ihrer Behinderung eine emotionale Tiefe und Durchsetzungskraft zu geben, die ihren früheren Werken in nichts nachstehen – obwohl die Titel vollkommen anders klingen als alles, was man jemals von Sam Brown gehört hat.

Computer werden hier nicht eingesetzt, um ansonsten belanglosen Wegwerf-Liedchen einen vermeintlich besonderen Touch zu geben oder Menschen, die einfach nicht singen können, so klingen zu lassen als könnten sie es doch.

Nichts an Sam Browns Gesang auf „Number 8“ klingt wie ein billiges Production-Gimmick, oder als ob es Sam Browns Absicht gewesen wäre, irgendetwas zu kaschieren oder so klingen zu lassen, als sei es in Wirklichkeit ganz anders.

Das Ergebnis ist fesselnd, von den ersten Takten bis zum Schluss.

Womit ich nicht sagen möchte, dass „Number 8“ ein leicht verdauliches Werk ist. Sam Brown beschäftigt sich ganz unverblümt und manchmal durchaus schmerzhaft mit dem ihr widerfahrenen Schicksal, und nicht nur mit den eigenen Abgründen, sondern auch mit jenen, an deren Rand sich die Menschheit im Jahr 2023 findet.

Mit am Deutlichsten wird dies auf Tracks wie „The Story“, wo Sam Brown singt:

The radio blares do we care how the underdog fares, no one caring
We’re a catastrophic race on a ball in space what a waste of space

That’s just the way the story goes
Maybe that’s all we need to know

Das ist harter Tobak in einer Zeit, wo toxische Positivität ein Ding ist. Und als die letzten Akkorde von „Ghost“, dem letzten Lied auf dem Album, schließlich verklingen, muss ich ehrlich gesagt ganz schön schlucken und mir denken, dass ich das in den falschen Situationen auf gar keinen Fall hören darf.

Aber gleichzeitig strotzt „Number 8“ nur so vor Kraft, es gibt jede Menge mitreißende, energiegeladene Momente, und musikalisch beeindruckend ist das Ganze sowieso, denn Sam Brown und ihrem kongenialen Songwrinting-Partner Danny Schogger gelingt der Balanceakt zwischen anspruchsvoll und doch hörbar mehr als meisterlich.

Das Ergebnis ist ein Album, das für sich selbst existiert und mit einer enormen Anziehungskraft seine eigene Welt erschafft.

Definitiv nicht zu empfehlen für diejenigen, die leicht Verdauliches benötigen.

Aber für alle, die „43 Minutes“ schon toll fanden, oder die die triumphale Rückkehr einer Ausnahmekünstlerin erleben wollen, oder die in ihrem Leben ebenfalls schon das hunderttausendste „jede Krise ist eine Chance“ oder dergleichen Ratschläge mehr ertragen mussten: Hell yeah, hört euch dieses Album an, denn:

It’s okay to be broken
It’s okay to be blue
It’s okay that you’ve frozen
It’s okay if you lose
When your time’s going nowhere
In a daze, like a fool
It’s okay to be broken, it’s okay


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