Müde 2

Es ist 6 Uhr morgens und ich bin müde.

Im doppelten wenn nicht sogar dreifachen Wortsinne.

Ich bin müde, weil ich kaum geschlafen habe, weil mein armer alter kranker Hund mich kaum schlafen lässt. Candor hat sich das Kreuzband hinten rechts gerissen; für einen alten Hund wie ihn eine Katastrophe, denn er benötigt eine Operation, was bei ihm mit zahlreichen Risiken verbunden ist. Und natürlich ist es mit der medizinischen Versorgung von Tieren in Deutschland inzwischen genau so wie mit der medizinischen Versorgung von Menschen in Deutschland: Sie ist kaputt.

Wenn man nach vier Stunden Wartezeit in der Tierklinik endlich einen OP-Termin in zweieinhalb Wochen bekommt, dann ist das normal und man darf sich glücklich schätzen. Und bis dahin? Ja, bis dahin soll er halt die volle Dosis Schmerzmittel fressen und sich beim Gassigehen fürchterlich anstrengen und komplett besudeln. Oh, und natürlich kostet das alles ungefähr vier Urlaube.

Apropos Urlaub, die Tatsache, dass er sich das Kreuzband gerissen hat, bedeutete auch, dass wir unseren Urlaub abbrechen mussten – einen Urlaub, dem ich jetzt ein halbes Jahr lang sehnsuchtsvoll entgegengefiebert hatte, denn ich hätte ihn echt nötig gehabt, denn ich war so entsetzlich müde vom Alltag, und jetzt, nach dem Urlaub, bin ich es noch viel mehr.

Ich bin müde, dieses heißeste Jahr aller Zeiten zu erleben und draußen rennen tatsächlich immer noch Menschen rum die der Meinung sind das sei alles normal, hätte mit Klimawandel nix zu tun, und man könne einfach so weitermachen wie immer (und sich, weil man so irrsinnig cool ist, den nächsten „Fuck You Greta“-Aufkleber auf seine von Mama bezahlte Dreckschleuder kleben).

Ich bin müde, mir diese bemitleidenswerten Gestalten anzusehen und dabei immer wieder zu erkennen: Das sind Kinder, die ihrerseits Kinder in die Welt setzen, und sie haben keine Ahnung, was gerade passiert.

Ich bin müde, mich mit dem Internet insgesamt und Social Media insbesondere auseinanderzusetzen. Selbst im Fediverse fühle ich mich wie ein Relikt aus alten Zeiten, das noch erlebt hat, wie Menschen, auch wenn sie unterschiedliche Vorstellungen von der Welt haben, noch vernünftig miteinander kommunizieren können. Inzwischen geht das nicht mehr. Kommunikation ist kaputt, Positionen werden immer extremer und es lauert an allen Ecken und Enden die Bereitschaft zur sofortigen und unbarmherzigen Empörung.

Es ist überhaupt kein Problem, im Fediverse eine „Diskussion“ zu führen, die dem folgenden Schema folgt:

A: Hallo, ich bin A.

B: Hallo, A, ich bin B, und ich bin vollkommen und ganz ausdrücklich gegen die Verfolgung von Menschen aus der Gruppe C durch Menschen aus der Gruppe D!

A: Äh, hallo!

B: Aha, Du bist wohl nicht gegen die Verfolgung von Menschen aus der Gruppe C durch Menschen aus der Gruppe D?!

A: Uh, tatsächlich bin ich gegen jegliche Verfolgung von Minderheiten…

B: …aha, aber nicht gegen die von Menschen aus der Gruppe C durch Menschen aus der Gruppe D, stimmt’s?!

A: Äh doch, ich finde nur, manchmal wäre es ganz hilfreich, die Rhetorik ein bisschen runterzufahren und sich…

B: HA, HABT IHR’S GEHÖRT?!! A IST SO EIN RICHTIG MIESES ARSCHLOCH AUS GRUPPE D! BLOCKIERT IHN, IGNORIERT IHN, ZÜNDET SEIN HAUS AN UND TREIBT IHN AUS DEM DORF! VERPISS DICH, DU DUMME SAU!

Und ich bin einfach müde, Zeuge oder gar Bestandteil von so einem Blödsinn zu werden.

Ich bin müde, mir die ganzen Horrornachrichten zu geben. Wo überall die Nazis gewählt werden, wer welche Streubomben an wen liefert, und so weiter und so fort.

Ich bin müde, am Gnadenhof geliebte Freunde zu verlieren. Wie diese Woche die schöne Helen, die eigentlich einen eigenen Artikel verdient hätte, weil sie wirklich ein ganz besonderes Pferd für mich war.

Ja, am Gnadenhof wird immer wieder gestorben, das ist mir nach drei Jahren Arbeit dort durchaus klar, und ja, ich hab sie alle lieb, die Tiere dort. Aber bei manchen geht es einem einfach ganz extrem nahe.

Aber ich kann das Blog ja auch nicht die ganze Zeit mit Trauer und Nachrufen füllen, ansonsten ist irgendwann auch mein letzter kläglicher Rest Publikum weg. Oder kann ich? Sollte ich vielleicht gar?

Und zu guter Letzt bin ich müde, weil die Dinge praktisch immer so laufen, wenn neue Musik von mir veröffentlicht wird. Am Freitag kommt meine neue EP raus, und obwohl ich in den letzten Jahren wirklich riesige Fortschritte gemacht habe, mir das wieder mal zu erwartende Ausbleiben von Feedback, die handvoll Boosts und die null Rezensionen nicht allzu sehr zu Herzen zu nehmen, bin ich mit all dem was gerade falsch läuft, einfach viel zu fucking müde und schwach, als dass ich mir das jetzt antun könnte.

Aber ich hab mir einen Plan zurecht gelegt, was ich tun werde.

Wenn es am Freitag soweit ist, dann werde ich mich noch einmal, ein letztes Mal, zusammenreißen, es auf Mastodon ganz genau einmal und nicht öfter erwähnen. Und hier noch ein bisschen was dazu schreiben (ganz ohne Gejammer, versprochen). Und dann gehe ich offline und kümmere mich nicht mehr darum; bis es irgendwann wieder geht.

Drückt mir die Daumen, dass ich dazu nicht zu müde sein werde.


Kommentare

Eine Antwort zu „Müde 2“

  1. Avatar von Jürgen
    Jürgen

    Moin Stephan,
    ich bin sowas von bei Dir …
    Viel Glück und Erfolg für Candor!
    Ich kenne das mit den „Viechern“, das ganze Spektrum. Von Geburt über OP bis „gehen lassen“ … Und die daraus resultierende schmale Geldbörse.
    Aber was wäre unser Leben ohne Tiere? Ich wollte es nicht anders.
    Fühl Dich virtuell gedrückt, Daumen werden auch gedrückt und die EP wird bestellt …
    Jürgen

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