Wir haben verloren

Bei einem meiner Ex-Arbeitgeber, wo alles sehr groß und ambitioniert war, da veranstaltete eine junge Frau, die ohne Probleme meine Tochter hätte sein können, für ihre Abschlussarbeit eine Umfrage zum Thema Nutzung sozialer Netzwerke durch ‚digital natives‘ vs. ‚digital immigrants‘, und sie fragte mich, ob ich ihr als Vertreter der letztgenannten Gruppe fünf Minuten meiner Zeit opfern würde, um ein paar Fragen zu beantworten.

Nun kenne ich mich, was das Internet betrifft, allein schon brotjobbedingt mit echt vielen Dingen sehr gut aus (ich weiß zum Beispiel, wie man einen TCP-Port aufmacht, Daten darauf sendet oder davon empfängt, und derlei Dinge mehr…), aber wenn von wichtigen Menschen über die Sozialstruktur des Netzes philosophiert wird, dann halte ich mich meistens raus… und deshalb hatte ich auch keine Ahnung von den Begriffen ‚digital natives‘ oder ‚digital immigrants‘.

Die ’natives‘, so erfuhr ich, das sind diejenigen, für die das Netz zu ihrer bisherigen Lebenszeit schon immer existierte. Es war nie nicht da, sie sind damit aufgewachsen. Die ‚immigrants‘ hingegen mussten sich erst daran gewöhnen, sie kannten es in ihrer Kindheit oder Jugend nicht, weil es da einfach noch nicht da war.

Aus sicherlich falscher Eitelkeit heraus störte mich diese Klassifizierung damals.

Es müsste, so meine Argumentation, eine dritte Gruppe geben – diejenigen, die zum Zeitpunkt ihres Erwachsen-Werdens am Aufbau des Netzes beteiligt waren. Diejenigen, die den ‚digital natives‘ ihren Sandkasten, den sie nun für die Welt halten, gebaut und zum Spielen hingestellt haben.

Ich war mit dem Akustikkoppler (und später mit dem Modem) in Mailboxen unterwegs, hatte einen eigenen Point im Fidonet, hackte PPP-Treiber für meinem A3000UX, starrte wie gebannt auf die ersten vom CERN und einigen wenigen Universitäten ausgelieferten Webseiten, damals noch via Terminalzugang über Lynx. Ich war einer der ersten, die eine Homepage hatten, und meine damalige Band war eine der ersten, die ihre Werke als mp2 (mp3 war noch nicht erfunden) kostenlos im Netz offerierten, lange vor der Entstehung von Creative-Commons-Lizenzen; ich beteiligte mich an Diskussionen im usenet… Ich war da. Ich war dabei. Ich hab dieses Netz mit aufgebaut. Ausgerechnet ich war jetzt also ein ‚immigrant‘, der erstmal damit klar kommen musste, welches für ihn fremde Wunderwerk der Technik ihm da vor die Füße geschmissen wurde? Das erschien mir als falsch.

„Na ja“, meinte meine Interviewpartnerin, „das leuchtet mir ein. Vielleicht könnte man Leute wie Dich als ‚digital builder‘ bezeichnen“.

Ein Arbeiter, von mir aus, das war auf jeden Fall näher an der Realität.

Wenn ich mir die Sache heute wieder durch den Kopf gehen lasse, dann muss ich feststellen, meine Klassifikation hat sich wohl in den letzten zwei Jahren geändert. Vom Arbeiter bin ich zum Auswanderer geworden. Noch nicht vollständig, aber immer mehr. Ich möchte mit diesem Netz immer weniger zu tun haben. Ich kann nicht ganz los lassen (noch nicht?), aber wenn wir mal hier den weit verbreiteten Fehler machen, das Internet als Raum zu begreifen, dann ist es ein Raum, der mich mehr und mehr anwidert, und in dem ich meine Zeit als verschwendet ansehe.

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Wie konnte es so weit kommen?

Als ‚das Internet‘ für den Privatmenschen so richtig losging (das muss so die Zeit zwischen 1998 und 2006 gewesen sein), da projizierten eine Menge unterschiedliche Menschen eine Menge unterschiedliche Wünsche und Hoffnungen auf dieses zarte neue Gewächs, das da gerade spross und gedieh.

Eine Plattform, um Menschen grenzübergreifend Information zugänglich zu machen, das hörte sich an, als wäre eine Utopie wahr geworden. Nicht wenige dachten (und ich gestehe, ich gehörte dazu), die Menschheit würde durch das Internet besser werden und sich weiter entwickeln.

Nehmen wir nur mal die Musik – endlich gab es die Möglichkeit, interessierten Menschen abseits vom Mainstream neue Musik ohne komplizierte Vertriebskanäle zur Verfügung zu stellen. Label? Plattenfirmen? Verträge? Brauchen wir nicht. Wir stellten unsere Werke frei verfügbar ins Netz und boten bei Gefallen die Möglichkeit an, eine richtige CD mit schönem Booklet zu bestellen, oder uns etwas zu spenden… so musste das funktionieren; alte, überkommene Strukturen aufbrechen, und neues erschaffen und dabei andere Künstler kennenlernen, einen aktiven Austausch von Inspiration etablieren. Das klang richtig gut, richtig verheißungsvoll.

Wie so Vieles.

Inzwischen schreiben wir das Jahr 2017, und wir haben Trump, Front National und die „AfD“. Und auch wenn gerade zig Institute zig teure Studien durchführen um herauszufinden, ob das Internet darauf wirklich so einen großen Einfluss hatte, kann ich das ganze hier gerne mal extrem kostensparend abkürzen: Ja, hatte es, natürlich. Man muss schon ziemlich merkbefreit sein, um das nicht zu erkennen.

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Mark Zuckerbergs große Dauerwerbesendung hat jedem besorgten Bürger, der vor 10 Jahren nur für sich allein vor seiner Fototapete sitzend gegen die Juden und/oder Kanaken und/oder Neger und/oder Europa schimpfte plötzlich das Gefühl gegeben, Teil einer großen und wichtigen Bewegung zu sein, in der alle Menschen eine ähnliche Meinung haben (und wenn nicht, dann allenfalls zu einer kleinen Gruppe von Gutmenschen gehören, die es zu bekämpfen gilt).

Machen wir uns nichts vor, diese Leute gab es schon immer. Aber dass sie zusammen gefunden haben, in ihren traurigen Ansichten zigtausendfach bestärkt wurden und nun einen veritablen gesellschaftlichen Faktor darstellen, das haben wir in der Hauptsache unseren „sozialen“ Netzwerken zu verdanken. Dass sie in einer Filterbubble leben, das wissen sie nicht. Und was Fake News sind, schon mal gar nicht. Diese Menschen hatten früher ihre Bildung aus der Bildzeitung, da ist es nicht verwunderlich dass sie beispielsweise die gerade kursierende Mär von Vergewaltigungen in Schwimmbädern durch organisierte Flüchtlingstrupps für bare Münze nehmen. Um zu begreifen dass sie instrumentalisiert und verarscht werden, müssten sie in der Lage sein, die Metaebene zu sehen, und diese Kompetenz haben sie nie erlernt.

Das ist es, was aus dem Netz wirklich wurde: Gift für die Massen. Ein 1a Werkzeug für Bauernfänger und Populisten. Ein Nährboden für Scharlatane und Hetzer, die hier jede Menge wehrlose Opfer finden… und eine einzige riesige virtuelle Klowand, bei deren Anblick sich jeder Vollpfosten denkt, sie gäbe ihm das Recht, ungefiltert und unter Missachtung jeglicher Regeln des Anstandes und der Vernunft Äußerungen darauf zu schmieren, die er in einem realen Gespräch einem realen Menschen niemals ins reale Gesicht sagen würde.

Und dabei geht es nicht mal ’nur‘ um Politik. Es geht ganz allgemein darum, wie man sich benimmt, Oder eben nicht benimmt. Blödsinnige youtube-Kommentare, Petabytes an Spam die jeden Tag verschickt werden, so genannte SEO- und Content-Marketing-Spezialisten und sonstige ganze Berufszweige die sich um die Frage herum gebildet haben, wie man am besten eine Suchmaschine verarscht, Unmengen an stumpfsinnigster Konsumgeilheit und Werbung, die sich als Fashion- und Lifestyleblogs tarnt, Botnetzwerke, Zensur, Verschlüsselungstrojaner, Klarnamenpflicht auf Google+ (kennt das noch wer?), der Niedergang der Piraten… ich könnte ewig so weiter machen. Das Internet ist sowas wie ein Universal-Toolkit geworden, mit dem sich alle Erungenschaften des Zeitalters der Aufklärung wirksam bekämpfen lassen.

Und natürlich ist es mit meinem größten Antrieb, der Musik, auch den Bach runtergegangen. Die Leute möchten im Internet schon lange nichts neues mehr entdecken. Sie möchten nur noch konsumieren. Als wir „Grounded“ veröffentlichten, da hatte man noch eine minimale Chance, auf Plattformen wie Jamendo wahrgenommen zu werden, und es gab noch revolutionäre und vielversprechende Formate wie Garageband.com. Nun ja, letzteres wurde von myspace gekauft und mit voller Absicht gegen die Wand gefahren (ehe myspace selbst in der Bedeutungslosigkeit versank), und Jamendo ist nur noch ein trauriger Witz, auf dem Leute, die kein Instrument spielen können, zwanzigtausend generische House-Tracks und Ambient-Mixe von anderen Leuten die kein Instrument spielen können, herunterladen und bejubeln (ich wage übrigens an dieser Stelle mal die Prognose, dass Jamendo 2017 den Weg von Ipernity gehen wird – diese andere französische Plattform, die so hoffnungsvoll gestartet war, aber ich schweife ab).

Will sagen: Diejenigen 40 Fans, die uns via Internet kennengelernt haben, die taten das schon vor vielen, vielen Jahren. Neue kommen schon lange nicht mehr dazu. Denn heute ist das Internet so kaputt und voll mit Werbung und Dreck, dass es quasi nicht mehr möglich ist, etwas neues zu entdecken (es sei denn, die SEO-Experten der zuständigen Marketingfirma sorgen dafür). Eine todsichere Methode, auf Twitter vollkommen ignoriert zu werden, ist es heutzutage, zu erwähnen, dass ich einen neuen Track hochgeladen habe. Sie wollen, dass Ihre Daten geheim bleiben? Geben Sie sie mir, ich mache einen schönen Song daraus. 

Sei das alles wie es wolle, ich habe dieses Netz mit aufgebaut, weil ich so große Hoffnungen hatte. Als ‚digital builder‘ muss ich zugeben, wir haben versagt. Die Technik ist weiter als die Menschen es sind. Mal wieder. Das hätte allen Beteiligten bewusst sein müssen. Man hätten früh voraussehen können, dass auch die Rattenfänger und Absahner ins Netz kommen würden, die Trumps und Petris, die Content-Marketing-Menschen, die Influencer (weia, allein das Wort ist schon bescheuert), die SEO-Experten, die Thelens und die sonstigen Pseudo-Visionäre aus der Castingshow… und die Leute mit der Bildung aus der Bildzeitung. Jetzt ist es zu spät. Sie sind alle da, und sie machen mit diesem Netz was sie wollen, weil es uns damals nicht eingefallen ist, das Netz gegen so etwas zu schützen.  Und es gibt offensichtlich kein Rezept dagegen. Und wenn es nur das Netz wäre, dann wäre alles noch ok, aber nein, die Welt geht kaputt.

Gratulation, Internet, Du hast dabei geholfen, eine Welt zu erschaffen, in der man jeden Morgen Angst haben muss, dass ein durchgeknallter Faschist mit einem toten Hamster auf dem Kopf via einem besoffenen Post auf fucking Twitter den dritten Weltkrieg auslöst.

Auch wenn das alles gar nicht danach klingt, ich bin kein negativer Mensch, wirklich nicht. Ich bin, wenn man bedenkt was in den letzten Jahren alles passiert ist, ziemlich glücklich mit meinem Leben. Aber ich hatte, wie gerade angedeutet, so einige persönliche Schicksalsschläge zu verarbeiten, und ich konnte mir nicht aussuchen, ob ich sie erleiden möchte oder nicht.

Ob ich mich im Netz von Hass und Dummheit deprimieren lassen möchte, das hingegen kann ich mir aussuchen, und gerade ist es sehr wichtig für meine geistige Gesundheit, mich dagegen zu entscheiden. Ich bin es leid, was aus dem Netz geworden ist. Das ist auch der Grund, warum hier lang nicht so viel von mir zu lesen war, wie ich ursprünglich vor hatte. Klar habe ich programmiert und fotografiert und getextet und musiziert, aber die Zeit in der realen Welt war und ist mir viel wichtiger als die Beschäftigung mit dieser ausser Kontrolle geratenen Hassmaschine namens Internet.

Es tut mir sehr leid für die Leute, die meinen künstlerischen und/oder menschlichen Werdegang verfolgen und das Interesse nie aufgegeben haben, und die auf neuen musikalischen Output von mir warten. Ich verspreche, er wird kommen, ich arbeite aktiv daran. Und ihr seid mir auch nicht wurscht, sonst würde ich diesen ganzen Artikel hier gar nicht schreiben, ich möchte nur, dass ihr mich versteht… warum ich mich zurückziehe, warum ich die Wandlung vom digital builder zum digital emigrant vollziehe.

Der Grund ist, um das noch mal ganz deutlich zu machen:

Wir haben verloren. Das Netz ist wenn noch nicht vollständig kaputt dann doch todkrank, und es hat in den letzten Stadien seiner Krankheit ein Monster nach dem anderen hervorgebracht. Es wird höchste Zeit für ein neues Netz.

Oder wer weiß. Vielleicht sind wir ohne einfach besser dran.

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P.S. / Update: Inzwischen wurde der Artikel auch von irgendjemandem mit blauem Böppel auf Twitter geteilt – und schon melden sich vermeintlich netzaffine  Leute mit irgendwas mit Tux im Twittername zu Wort und bescheinigen mir, ich sei halt „zu doof“, meinen Newsstream zu filtern. Jahaa, alles sehr erwachsen. Womit aber bewiesen wäre, dass man nicht bei Trump, „AfD“ & Co. nachschauen muss, um Menschen zu finden, die sich im Netz nicht benehmen können.

Man muss nicht mit mir einer Meinung sein oder die Dinge genau so sehen wie ich. Man kann auch dagegen argumentieren. sleeksorrow macht das beispielsweise in den Kommentaren, und ich schätze ihn sehr.

Man muss noch nicht mal meinen Text lesen und seinen Sinn erfassen können.

Aber eine Meinung nicht teilen und deshalb denjenigen der sie äußert bequem in 140 Zeichen als blöd hinstellen… naja… äh… füttere ich gerade Trolle? Ja, mach‘ ich wohl. Würde ein Filter helfen? Ja. Wäre die Welt besser wenn es diesen Filter nicht bräuchte? Aber auf jeden Fall.

Was zu beweisen war.


Kommentare

6 Antworten zu „Wir haben verloren“

  1. Die Gefühle kann ich gut nachvollziehen, und auch wenn ich es nicht könnte, wären sie natürlich weiterhin völlig legitim. Gefühle kann man nicht wegdiskutieren, denn sie sind.

    Die Schlussfolgerungen daraus kann man aber doch auf logischer Grundlage diskutieren. Und da fehlt mir ein wenig der logische Zusammenhang. Wenn ich mich hier umgucke, sehe ich keine Demagogen, keine Rechtsausleger, keine Nationalisten, keine Fremdenfeinde, nichts derartiges. Warum willst Du hier weg?

    Was ich damit sagen will: Nein, das Netz ist nicht kaputt. Das Netz ist schon seit langem dezentral genug, so dass man seinen eigenen Bereich darin haben kann. Man kann Twitter zu machen, man kann Facebook ausloggen, man kann Nachrichtenseiten zu lassen, man kann sich von dem Irrsinn zurückziehen. Eigentlich kann man nicht nur seinen eigenen Bereich haben, nein, man kann einfach den ekligen Bereich umgehen. Die Krankheit ist in sehr exakt definierbaren Orten unterwegs, und auch wenn die Grenze sich hin und wieder bewegt, so ist sie doch fast mit der Rasierklinge gezogen.

    Warum man sich von seinem selbst erarbeiteten sicheren Hafen im Netz zurückziehen will, wo die wenigen guten Freunde den Kontakt halten, wo man sein eigenes sozial Network hat, leuchtet mir hingegen nicht ein.

    1. Avatar von Stephan
      Stephan

      Teilweise Zustimmung, ja.

      Man muss sich das alles nicht geben. Ich hab hier und auf meinen zwei anderen Blogs meine schöne kleine heile Welt mit den Fotos und der Musik die mir was bedeuten und den sehr wenigen aber umso wichtigeren und geschätzteren Menschen, denen sie ebenfalls etwas bedeuten.

      Trotzdem ist das Netz ausserhalb dieser Inseln ein Hort für das Verbreiten von Lügen und Hass (und allem was ich oben im Artikel beschreibe) geworden, was ein in höchstem Maße alarmierendes gesellschaftliches Phänomen ist. Und seien wir ehrlich, unsere kleinen Inseln machen keinen Unterschied in dieser Entwicklung

      Ob ich auf Föhr eines Abends plötzlich unter dem Eindruck einer quasi-religiösen Erfahrung drei für mich irrsinnig schöne Lichtbilder erstelle oder in meinem hoffentlich bald vorzustellenden neues Musikprojekt einige für mich irrsinnig schöne neue Lieder entstehen, das ist für einen kleinen überschaubaren Personenkreis interessant und bewegend.

      Das große Problem aber bleibt. Dass Leute im Netz sind, die es für die verabscheuungswürdigsten Ziele missbrauchen. Und dass andere Leute im Netz sind die sich einfangen und manipulieren lassen, und das macht unsereins verzweifelt und hilflos. Verzweifelt und hilflos mag ich nicht. Und da kann ich noch so viel Schönheit in die Welt schleudern, die Hilflosigkeit bleibt.

      Klar muss man da nicht hinschauen. Aber Du weisst so gut wie ich, dass der Faschist mit dem toten Hamster auf dem Kopf trotzdem da ist und sein Gift in die Welt sprüht. Und zigtausend andere Faschisten, die (gar nicht mal so unrealistisch) denken, dass ihre Zeit gekommen ist. Und ich bin zu 100% sicher, ohne das Netz wäre das nicht passiert.

      Wie also dagegen wehren? Wie macht man dieses Netz zu einem schönen Ort? Mit kleinen Inseln? Vielleicht, aber ich würde mich wohler fühlen, wenn meine kleine Insel, abstrakt gesehen, an einem ganz anderen Platz stattfinden würde, und nicht da, wo sich die Brandstifter tummeln.

  2. Deine Ausführungen geben für mich nur Sinn, wenn Du „Das Netz“ nur als „Die aktuell führenden social networks“ meinst. Aber ich weiß, dass Du so profane Gleichsetzungen nicht versehentlich machen würdest, also nehme ich an, Du meinst das Netz wirklich als die Gesamtheit des Internets.

    Das Netz ist überall, allumfassend, in jedem Winkel unseres Lebens. Es wird nicht weg gehen, es wird bleiben und es wird sich entwickeln, in welche Richtung auch immer. Wenn Menschen dem Netz heute den Rücken kehren, kehren sie einem großen Teil des modernen Lebens den Rücken. Das ist natürlich auch eine valide Lebensführung und es gibt Menschengruppen, die das für sich entdeckt haben. Emails an Bekannte, Videotelefonie mit zur Zeit verreisten Lieblingsmenschen, Gruppenchats mit Freunden, schneller und direkter Zugriff auf inspirierende Kunst wie Bilder, Musik, Videospiele, Bücher, Informationen über die Welt und das Universum um uns, etc.pp. Wir haben vor nicht all zu langer Zeit ohne das alles gelebt. Allerdings hat damals der Rest der Welt auch ohne das alles gelebt. Die damaligen Möglichkeiten sind inzwischen den modernen Pendants im Netz gewichen, und Du findest die Optionen von damals heute nur noch sehr eingeschränkt oder möglicherweise gar nicht mehr. Ein Verzicht auf das Netz ist heute tiefgreifender als damals.

    Aber: Alles, was ich da gerade aufgezählt habe, hat eine Whitelist auf Quellenseite und ist unter Deiner völligen Kontrolle. Gerade dank uns digital builders ist das Netz kein Meer, wo jeder Dreck irgendwann überall hingespült wird, sondern das sind nur ein paar große Wasser-Erlebnisparks, die schon seit Jahren nicht mehr gereinigt wurden und wo die Fäkalien daher nun oben schwimmen. Verzeih die unappetitliche Metapher. Aber so wie ich im physikalischen Leben nicht in so einen Park gehen muss, muss ich es auch im Netz nicht. Sollte ich nicht mehr das Haus verlassen, weil es auf der Welt einige solcher riesiger Parks gibt, die an diesem Problem leiden?

    Um diese Frage für das kranke Netz zu beantworten, würde ich das in zwei Teile aufdröseln.

    1: Welche Auswirkungen hat es auf Dich als Person?
    – Wenn Du Dich nur noch in dem von Dir kontrollierbaren Bereich bewegst, hast Du dann noch was von den Nachteilen zu befürchten oder würde es Dein persönliches Problem bereits ganz oder nahezu lösen?
    – Hätte es darüberhinaus Vorteile für Dich, wenn Du auch diesen kontrollierbaren Bereich noch verlässt?
    – Wenn ja, überwiegen diese zusätzlichen Vorteile die Nachteile des Verzichts auf die kontrollierbaren Möglichkeiten des Netzes?

    2: Welche Auswirkungen hat es auf das Netz als Gesamtes?
    – Wenn Du statt einem Gesamtverzicht noch in dem von Dir kontrollierbaren Bereich aktiv bleibst, könnte das die Verbesserung des Problems behindern?
    – Kann es das Problem verbessern, wenn Du Dich statt dessen ganz aus dem Netz zurückziehst? Könnte das vielleicht als Signal eine Wirkung entfalten, oder ein anderes Wirkprinzip haben?

    Ich habe versucht, die Fragen so neutral wie möglich zu gestalten, aber meine Meinung dazu färbt sie spürbar, fürchte ich. Ich habe meine Antworten auf diese Fragen und ich kann mir auch nach langem Überlegen nicht vorstellen, wie eine andere logisch nachvollziehbare Antwort aussehen könnte, aber nun ja – ich stelle die Fragen ja schließlich, um Antworten zu bekommen, die ich noch nicht kenne.

  3. So wirklich widersprechen kann ich Dir nicht, und das ganze wird sich auch nochmals dramatisch verschlimmern, wenn denn dann neben Kommerz, Hass und Dummheit auch noch jedes Ding seinen Weg ins Netz findet …

    … aber trotzdem bin ich noch nicht bereit aufzugeben, dieses Netz, das wir, Du und ich, aufgebaut, über 20 Jahre gestaltet, mit Leben gefüllt haben, jetzt schon abzuschreiben. Lasst uns weiter kämpfen für ein besseres Netz. Für eine bessere Gesellschaft. Vielleicht nicht immer im Großen, Ganzen … aber doch zumindest auf den kleinen Inseln, auf denen wir uns einrichten können.

    Noch.

  4. Avatar von Volker
    Volker

    Lieber Stephan,

    schön mal wieder von Dir zu lesen und besonders schön ist es zu hören, dass Du Dein Komponieren nicht vergessen hast.

    Deine Zeilen sprechen nicht nur mir aus der Seele. Viele meiner Freunde und Bekannten geht es ebenso. Das Netzt überfordert einen an Informationen , die Technologie der Geräte überfordern die Nutzer und die Konsequenz ist Abwendung, Rückzug.
    Doch wie heisst es in einem Text einer NDW Band: „wer sich vor der Welt zurückzieht, kommt erst recht in Feindliches Gebiet.“
    Das ist wie das Brecht´sche Mutter Courage Paradoxem.
    Wir profitieren in gewissen Masse von dem Netz, jeder in seiner Weise, und verlieren dabei wiederum.

    Die Anfänge des Netzes hast Du gut dargestellt, es war eine Welt Gleichgesinnter, Leute die Intelligenz hatten und sich der neuen Technik annahmen um die Welt besser zu machen.
    Vint Cerf und Web-Erfinder Tim Berners-Lee haben erst kürzlich auf einer Konferenz sich besorgt über das bestehende Web ausgedrückt.

    Die Entwicklung ist aber etwas organisches, man kann sie nicht stoppen oder lenken, so meine Meinung. Damit bin ich auch nicht alleine.
    Viele Philosophen der Neuzeit sehen das ähnlich. Stanislaw Lem beschrieb schon vor Jahrzehnten in seinem Buch, DIE TECHNOLOGIEFALLE, in Bezug auf neue Technologien: “ ..Sie ist das sozial existentielle Resultat einer breiten Anwendung derartiger technogener Operationen, das in der Entstehungsphase unbemerkt, gesellschaftlich oder überhaupt nicht vorhersehbar, in der Phase zunehmender Anwendungen dann unumkehrbar ist, wobei sich die erhofften Vorteile seiner Verbreitung in eine ein- und mehrdimensionale Katastrophe verkehren, die immer offensichtlicher wird und von eben jenen mächtigen Entscheidungsträgern immer schwieriger zu stoppen ist, denen wir seine proliferativen Ausmaße und seine überwältigende Schädlichkeit verdanken.“

    Betrachtet man das in Bezug z.b. auf die Atomenergie oder die Erfindung des Schwarzpulvers, bestätigt es diese bedeutende Aussage mehr als genug.
    Und was kommt noch alles da gerade auf uns zu: Biotechnologie, Gentechnologie, Künstliche Intelligenz … Genug Technologien die weltzerstörerische Katastrophen auslösen können.

    Das Netz ist eine Technologie die wir wie kleine Kinder nutzen, damit spielen und erst beim Spielen ala try and error Regeln aufstellen, um das Spielzeug nicht ganz ausser Kontrolle geraten zu lassen.
    Lem hat in seinem letzten Essay davon gesprochen, das er nicht mehr glaube das die Menschheit es schaffe die weiteren notwendigen Entwicklungssprünge zu schaffen, sondern untergehe.
    Max Frisch schrieb in seinen „Fragebogen“ : „Sind Sie sicher, daß Sie am Fortbestand der Welt interessiert sind, wenn alle ihre Verwandten, Freunde und Nachkommen nicht mehr am Leben sind?“

    Das ich hier eine düstere, vom Defätismus geprägte, Prognose auf Deinen Blog wiedergebe soll aber nicht mein Fazit sein.
    Ich denke das alles im Universum ein gewisses Gleichgewicht inne hat, wie im Buddhistischen Denken, das Jing und Jang.
    Das Netz hat uns zusammengeführt, ich kann diese Zeilen Dir schreiben und Deine Musik habe ich über das Netz gehört und vieles hat mich sehr berührt und mein Denken und Wesen verändert. DAS sind die chaotischen und nicht steuerbaren Vorteile. Wohin das ganze führt, weiss keiner und letztlich ist es auch egal.
    Den Weltschmerz über die Dummheit und das Versagen der Ideale, den sollte man sich nicht in seinen Gedanken zu lange lassen, sondern diesen Schmerz vorbeiziehen lassen, wie eine Wolke. Mir gefällt es dann immer an die Theorie
    der multiplen Universen zu denken, das es da eine gleiche Welt gibt, mit einem wir mir, der aber doch in einer anderen Welt lebt, wo es vielleicht funktioniert und eine transhumanistische Welt, in meinem Ideal existiert.

    Geniesse jeden Tag der Dir gegeben!

  5. Mir geht es ähnlich, auch wenn ich für Akustik-Koppler zu alt bin. Als Benutzer gibt es schon noch ein paar Orte im Netz, die funktionieren. Wikipedia zum Beispiel. Manche Foren. Aber das meiste ist mir fremd geworden. Früher habe ich viel gebloggt und viele Blogs gelesen – die meisten Blogs in meinem Feed-Reader sind mittlerweile Karteileichen. Es ist wohl Zeit, sich wieder auf sich selbst zu besinnen, denn abgesehen von aller technischen Entwicklung ist aus einem Austausch das An-die-Birne-Ballern von Beine-bis-zum-Hals-mein-neuer-Lippenstift-guckmal geworden.

    Jedes Zeitalter fördert seine eigenen psychisch Gestörten und stilisiert sie zu Helden. (Fury in the Slaughterhouse: „Every generation got it’s own desease“) Ich orakle, dass die Zanzigerjahre dieses Jahrhunderts die narzisstischen Marketingfuzzis ganz nach oben spülen wird. DIE PARTEI ist ebenfalls schon satirisch mit dabei: „Inhalte überwinden, das Bier entscheidet“. Inhalte überwinden, ich denke das ist der nächste Schritt. Denn in hohle Köpfe kann man füllen, was man will.

    Aber so war das mit diesem Netz nicht gedacht, oder? Im Gegenteil.

    Also raus da aus dem Netz, aber irgendwie hänge ich noch dran. Als Künstler: Auf die Bühnen. Neue Bühnen schaffen, Menschen bewegen, zum Publikum zu werden. Mit ihnen reden, trinken, schlafen, streiten, schweigen. Was Menschen eben so machen, wenn sie sich treffen. Wäre das eine Idee? Die Highlights davon können ja dann zu YouTube und zu Facebook, als Nebenprodukt und Anreiz für das Publikum, aber nicht als Selbstzweck? Nur so… der Versuch, vorwärts zu denken.

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