Das Mädchen am Telefon (Teil 6/10)

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VI.

„Es war so echt, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie echt es war“, sagte Helena unvermittelt, löste ihren Blick von den Reflektionen im Wasser unter uns und schaute umher, als ob es irgendetwas gäbe, woran sie sich hätte festhalten können, irgend einen Schalter, den sie hätte umlegen können, ein Seil, an dem sie hätte ziehen können, damit die ganze Geschichte wieder einen Sinn ergab.

Es ist erstaunlich, wie das Gedächtnis in Stresssituationen funktioniert… oder besser gesagt, irgendwann nicht mehr funktioniert. Ich kann mich recht gut an alles erinnern, was sich vor dem Rückruf durch die Polizei ereignete. Danach aber setzt meine Erinnerung erst am nächsten Tag wieder richtig ein, als Helena und ich wieder abgereist waren und beschlossen hatten, ein wenig unter alten, knorrigen Weiden an einem alten Seitenarm der Donau entlang zu wandern. Es war ein idyllischer, kleiner, vollkommen verlassener Pfad, und wir hatten uns gedacht, wenn wir schon mal im tiefsten Bayern sind, könnten wir auch versuchen, ein bisschen was Schönes zu unternehmen und den Kopf wieder klar zu bekommen.

An einer Stelle gab es einen schönen Zugang zum Wasser, also entledigten wir uns unserer Schuhe und stapften ein bisschen durch das herrlich abkühlende Nass.

Es war ein paradiesisches Plätzchen… und es war geradezu absurd, wie unsere Umgebung im härtest möglichen Konrast zu dem stand, was wir in der Nacht zuvor erlebt hatten.

Ich erinnere mich schemenhaft daran, wie Helena dem Polizeibeamten in der am Telefon drei- oder viermal hintereinander Nicoles Mobilfunknummer diktiert hatte, um auch wirklich ganz sicher zu gehen, dass keine Verwechslung vorlag; wie sie im folgenden Gespräch erst sehr laut und dann sehr leise wurde, wie immer wieder die Worte „aber das kann nicht sein… das kann nicht sein…“ fielen, während Franz, Annegret und ich größtenteils schweigend im Wohnzimmer saßen… und wie Franz irgendwann zu mir sagte: „Das wird schwer werden für sie… es ist gut, dass sie dich hat.“

Ein weiterer Irrtum, denn Helena hätte, wie sich schon allzu bald herausstellen sollte, einen ganz anderen Menschen als mich gebraucht. 

Obwohl ich die Entwickung zwischen Nicole und Helena sehr kritisch und mit großen Sorgen beobachtet hatte und mir mehr als einmal gewünscht hatte, dass der Spuk so schnell wie möglich aufhört, war es selbst für mich zunächst sehr schwer gewesen, zu akzeptieren, dass wir an der Nase herumgeführt worden waren.

Viel schwerer jedoch war es tatsächlich für Helena. Franz, Annegret und auch ich hatten in jener Nacht noch viel mit ihr geredet, und auch am nächsten Morgen… und schließlich erschien es beinahe so, als hätte sie sich mit den Tatsachen abgefunden.

Doch tatsächlich war sie komplett durcheinander und verwirrt.

Irritiert und geistesabwesend starrte sie plötzlich zum Ufer und ließ unvermittelt meine Hand los, die sie die letzten Minuten über gehalten hatte.

„Was hast Du?“ fragte ich.

Ohne zu antworten stapfte Helena zum Ufer zurück, schnappte sich ihre Tasche, die sie neben ihren Schuhen abgelegt hatte, holte ihr Handy raus und setzte sich auf einen Baumstamm, den der Fluss ans Ufer gespült hatte.

Schließlich kam ich auch wieder am Ufer an.

„Das kann einfach nicht sein…“ sagte Helena leise und starrte auf ihr Handy.

Sie schaute mich an. „Ich ruf da jetzt noch mal an… das kann einfach nicht sein…“

Es war herzzerreißend, ihr dabei zuzuschauen.

„Bitte lass es doch“, sagte ich, „was willst Du damit erreichen?“

Doch Helena hielt das Handy an ihr Ohr und flüsterte leise „das kann nicht sein… es kann nicht sein…“

„Hallo?“ sagte sie plötzlich laut. Und dann: „Helena hier… ich…“

Sie schaute mich traurig an und schüttelte mit dem Kopf.

„Es tut mir leid… ich… ja, die bin ich, genau… nein, ich rufe nicht nochmal an…“ sagte sie, beendete das Gespräch und steckte ihr Mobiltelefon wieder weg.

„Es war die Kripo Trier dran… es ist tatsächlich das Handy… die haben es beschlagnahmt, es ist immer noch dort… ich kann es einfach nicht glauben…“, sagte sie.

„Vielleicht sollten wir jetzt einfach mal an was anderes denken…“, schlug ich vor, „weisst Du…? auf andere Gedanken kommen…“

„Ja, du hast recht“, antwortete Helena. „Komm, lass uns noch ein bisschen laufen…“

Gesagt getan, wir liefen weiter jenen Seitenarm der Donau entlang. Helena legte schließlich einen Arm und mich, und ich um sie, und wir schauten aufs glitzernde Wasser. 

„Schau nur, wie schön das ist…“, sagte Helena und drückte mich fest an sich.

So bizarr die Geschehnisse in dieser Nacht auch gewesen waren, es war ein schöner Moment zwischen uns beiden. Ein Momnent, der nur uns gehörte. Ein Moment, in dem es möglich schien, dass alles wieder gut werden würde.

Es sollte nicht so bleiben.

Wieder zurück zuhause holte uns die Wirklichkeit wieder ein. Helena hatte ihr Studium bzw. ihre Diplomarbeit in den letzten Wochen stark vernachlässigt. Bald war wieder alles beim Alten… ich hatte Angst, mir von Helena zu viel Nähe zu wünschen, und Helena war in blinder Panik fest entschlossen, die verlorene Zeit – ihr Diplom betreffend – wieder aufzuholen… und sie ging mit ausgefahrenen Krallen auf mich los, wenn ich unvorsichtigerweise doch irgendetwas sagte, was sie als Kritik an ihrem zeitlichen Einsatz in dieser Beziehung missverstehen konnte.

Es war genau diese unheilvolle Dynamik, die dafür sorgte, dass ich vollkommen falsch reagierte, als Helena mir wenige Wochen später erstaunliche Neuigkeiten mitzuteilen hatte:

„Du glaubst nicht, was passiert ist…“, sagte sie. „Martina hat bei mir angerufen!“

„Wer?“ fragte ich. 

„Martina Ebert… die Frau, der das Telefon gehörte!“

„Ach nee…“, sagte ich. „Und?“

„Sie hat sich dafür entschuldigt, dass ich so viel Stress hatte… sie wollte sich schon viel eher melden, aber sie musste erst ein paar Nachforschungen anstellen…“

„Nachforschungen?“ fragte ich.

„Ja… sie hat eine Vermutung, was passiert ist, und wie sich die Geschichte erklären lässt…“

Jetzt hatte Helena meine volle Aufmerksamkeit.

„Und zwar?“ fragte ich.

„Martina hat eine gute Freundin, mit der sie auch mal eine Beziehung hatte. Und diese Freundin hat eine Tochter namens Nicole. Wie gesagt, die sind immer noch gut befreundet, und Nicole und ihre Mutter sind öfter mal zu Besuch bei Martina“, erzählte Helena.

Ich runzelte die Stirn. Das alles klang, vorsichtig ausgedrückt, leicht verquer.

„Martina meint, sie hätte das Handy seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt, sie hat eigenltich ein neues mit einer neuen Nummer… und sie könnte sich vorstellen, dass Nicole ihr altes Handy an sich genommen hat, um mit mir zu telefonieren…“

„Äh was? Und Dir eine Lügengeschichte zu erzählen, aus dem schönen Bayern?“ fragte ich verwirrt.

„Nee, pass auf: Nicole und ihre Familie waren laut Martina letztes Jahr in Bayern in Urlaub… sie haben dort Verwandte. Es könnte sein, dass Nicole wirklich vergewaltigt wurde, und sie diese Bayern-Geschichte damit vermischt hat, damit sie mir nicht alles über sich erzählen muss… um auf ihre Situation aufmerksam zu machen… praktisch ein Hilferuf… es kommt vor, dass Missbrauchsopfer Phantasie und Realität mischen, insbesondere Kinder…“

Ich saß da und sagte gar nichts. Ich musste das soeben Gehörte erstmal verarbeiten.

„Aber die Frauen in der WG hatten doch der Polizei erzählt, noch nie was von einer Nicole gehört zu haben?“ fragte ich schließlich.

„Ja, für die anderen stimmt das auch… und Martina hat das gesagt, weil sie in dem Moment total erschrocken war, und gar nicht an die Tochter ihrer Freundin gedacht hatte…“

„Und… und die waren an dem Abend auch da? Ich denke, es waren nur vier Frauen in der WG?“ erkundigte ich mich.

„Die waren an dem Tag auch zu Besuch gewesen, ja… und waren kurz vorher gegangen…“

Ich fand das schwer zu glauben. 

„Und jetzt?“ fragte ich.

„Martina hat begonnen, bei Nicole und ihrer Mutter mal nachzuforschen…  und… sie meint, es könne sein, dass in Nicoles Familie irgendwas schief läuft, und ihre Freundin ihr nichts davon erzählt… und dass Nicole um Hilfe gerufen hat…“

Es war mir damals so wenig klar. 

Beispielsweise war es mir nicht klar, dass ich, ebenso wie Helena, Teil dieser Geschichte war, und dass ich mich schon längst hatte manipulieren lassen. Dass auch ich glauben wollte, dass sich hinter dem Erlebten irgendeine Art von Sinn verbarg, dass es doch eine Erklärung für alles gab, was wir diesen Spätsommer durchgemacht hatten.

Und so unternahm ich keinen Versuch, Helena von eben demselben Wunsch abzubringen. Wenn ich heute daran zurück denke, dann bin ich entsetzt, wie schwach ich war, wie sehr mir das ganze Psychogelaber und unsere Beziehungsprobleme zugesetzt hatten.

Tatsächlich denke ich, dieser Moment war der letztmögliche, in dem die herannahende Katastrophe noch hätte gestoppt werden können.

Helena hätte dazu aber einen Freund gebraucht, der ihr an dieser Stelle gesagt hätte:

„Hör sofort auf, beschäftige Dich keinen Moment länger damit! Du willst Therapeutin werden? Dann sei professionell und lass diese Sache los. Und ich sag das nicht wegen mir. Lass mich von mir aus auch noch das nächste halbe Jahr links liegen und mach Deine verdammte Diplomarbeit fertig… und dann lass uns ein Jahr lang durch Norwegen trampen!“

Stattdessen aber hatte sie mich, und ich sagte: „Hm… also… ich weiß nicht… ich wäre da sehr vorsichtig…“

„Keine Angst, ich weiß, was ich tue“, antwortete Helena.

Und das Unglück nahm seinen Lauf.

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