Das Mädchen am Telefon (8/10)

<- Zu Teil 7

VIII.

Viele weitere Wochen waren ins Land gezogen.

Wochen, in denen Helenas Besessenheit mit Martina und Nicole noch viel stärker gworden war… sehr viel stärker als vor unserer Reise nach Bayern.

Dabei war es nach dem alten Muster weitergegangen, nur noch tausendmal intensiver: Sobald Helena den Versuch unternahm, wieder etwas Freiraum für ihr eigenes Leben zu gewinnen, so ereignete sich an einem der nächsten Tage bei Martina und/oder Nicole die nächste große Katastrophen-Geschichte – wobei diese Geschichten wilder und wilder wurden, bis zu einem Punkt, an dem ihrem einer Mischung aus Daily Soap, „Tatort“ und Nachmittags-Talk entsprungen zu scheinenden Inhalt kein einigermaßen vernünftiger Mensch Glauben schenken konnte.

Außer Helena.

Eine dieser Geschichten war diese: 

Nicoles Stiefvater hätte Nicole von der Schule abholen sollen (Nicoles Mutter hatte in der Zwischenzeit ob der Enthüllungen der letzten Wochen – die sie nicht glauben wollte – einen Nervenzusammenbruch erlitten und konnte sich um gar nichts mehr kümmern). Weil Nicole panische Angst davor hatte, dass auf der Heimfahrt etwas geschehen würde, weihte sie schließlich Martina ein, welche sich (nach langer und komplizierter Planung mit Helena am Telefon) heldenhaft dazu bereit erklärte, Nicole selbst von der Schule abzuholen. Aus irgend einem Grund waren sie dann bei Schulschluss beide da, und Martina konfrontierte Nicoles Stiefvater; erklärte ihm, sie würde Nicole erst mal mit in die WG nehmen. Daraufhin ging Nicoles Stiefvater mit dem Messer(!) auf Martina los, verletzte sie schwer(!!) am Arm, zerrte Nicole zu sich ins Auto und raste mit ihr davon(!!!).

Martina rief direkt nach dem Angriff Helena an, panisch und voller Sorge, dass es im Auto zu einer weiteren Vergewaltigung kommen würde. Den ganzen Tag warteten Martina und Helena daraufhin auf ein Zeichen von Nicole… die sich schließlich zwei Tage später meldete (währenddessen immer wieder: Anrufe von Helena bei Martina und andersherum, um herauszubekommen, was der aktuelle Stand der Dinge sei), und berichtete, sie hätte sich nicht früher melden können, ihr Stiefvater und ihre Mutter hätten sie zuhause eingesperrt.

Allein an der Geschichte selbst ergaben so viele Dinge keinen Sinn, dass es müßig ist, hier darüber zu referieren. Am allersinnlosesten aber war es, dass Martina nach eigener Aussage auch drei Tage nach dem Vorfall noch nicht im Krankenhaus oder bei der Polizei vorstellig geworden war, um den Angriff zu melden oder sich behandeln zu lassen… und dass sie (nächste Eskalationsstufe) dann in der nächsten Woche vom Notarzt ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, weil sich ihre unbehandelte Stichwunde entzündet hatte und ein Verdacht auf Blutvergiftung bestand (wie Helena, natürlich, von einer vollständig verzweifelten Nicole am Telefon erfahren hatte).

Das war dann auch die Woche, in der ich einen letzten Versuch unternahm, mich mit Helena zu treffen und mit ihr über die Situation zu reden. 

Es war erschreckend zu sehen, wie leicht und selbstverständlich Helena auch die abstrusesten Geschichten von Nicole/Martina in ihre Wirklichkeit integriert hatte, und wie vollkommen unmöglich es war, sie davon abzubringen. Helena war ein sehr intelligenter Mensch, aber es fiel ihr schon lange nicht mehr ein, irgendwas zu hinterfragen.

„Meinst Du wirklich, wenn er bei Schulschluss auf offener Straße mit einem Messer auf eine Frau losgeht, dann bekommt das niemand mit?“

Helena zuckte mit den Schultern. „Da wird niemand mehr gewesen sein…“

„Und warum ist sie dann nicht zur Polizei?“

„Weil sie nicht wollte, dass Nicole etwas passiert“

„Aber ihr Stiefvater hat sie ins Auto gezerrt und ist mit ihr davon gefahren… welchen zusätzlichen Schaden könnte da das Einschalten der Polizei anrichten?!“

„Ich weiß es nicht… sie hatte Angst, ok?!“ antwortete Helena, die allmählich wütend wurde.

„Wovor? Angst davor, dass ihr von der Polizei geholfen wird? Und warum hat sie ihre Wunde nicht behandeln lassen?“ fragte ich und versuchte ruhig zu bleiben.

„Sie wollte erst mal mich anrufen…“

„Und warum?“

„Damit ich bescheid weiss, damit ich…“

„…damit Du Dir Sorgen machst und an nichts anderes denkst, den ganzen Tag ausschließlich mit ihr beschäftigt bist und weiter Dein Leben an sie verschwendest“, vervollständigte ich den Satz für sie, und wusste in diesem Moment, dass ich zu weit gegangen war.

Wütend stierte mich Helena an. „Ich kann mich nicht immer nur mit Dir beschäftigen! Jetzt kapier’s endlich mal!“ sagte sie laut. Und sie hätte vermutlich noch viel mehr gesagt, aber in diesem Moment klingelte das Telefon. Helena schnappte es, lief damit auf ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Kurz überlegte mir, ob ich einfach gehen sollte. Aber ich entschied mich dagegen. Ich wollte dies hier zu Ende bringen… auf irgend eine Art und Weise würde es heute enden.

Ich setzte mich in die Küche, schnappte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und wartete. Ich wartete sehr lange. Nach anderthalb Stunden kam Helena zu mir in die Küche. Sie war ganz bleich, zitterte am ganzen Körper und hatte Tränen in den Augen.

„Oh Gott oh Gott oh Gott… Nicoles Mutter hat Selbstmord begangen…!“

„Was?!“ fragte ich ungläubig.

„Sie hat sich auf die Bahnschienen gelegt… und die… die sind ihr… die sind ihr über den Kopf gefahren…“, schluchzte Helena.

„Woher weißt Du das so genau…?“ fragte ich.

„Nicole hat es mir erzählt… die musste mit in die Leichenhalle, den Körper identifizieren… Martina war bei ihr…“

„Und die sind nicht erst mal zu ihrem Mann, oder zu ihren Verwandten, die haben wirklich zuallererst das junge Mädchen gefragt…?“

Helena nickte. „Ihr Stiefvater war nicht da, und… und…“

„Und deshalb musste es unbedingt Nicole sein? Und sie hat auch nicht Martina vorgeschickt? Und es gab keine anderen Verwandten? Und sie haben ihr genau in allen Einzelheiten beschrieben, wie ihre Mutter gestorben ist?“

Helena schaute wütend auf. „Hör mal, es ist mir egal ob Du das glaubst oder nicht…“, sagte sie.

„Das weiß ich“, antwortete ich, ebenso wütend.

Ich war erstaunt über mich selbst… denn zum ersten Mal war meine Wut größer als meine Verzweiflung ob der ganzen unmöglichen Geschichte. Ich war aufgestanden weil ich nicht länger sitzen konnte, und weil ich am liebsten irgendwas gegen die Wand gefeuert hätte.

„Da ist gerade jemand GESTORBEN, und Du hast nichts besseres zu tun, als an Dich zu denken!“ fauchte Helena voller Entrüstung.

Ich schüttelte den Kopf, holte tief Luft, versuchte, mich zusammenzureißen.

„Helena… merkst Du denn überhaupt nicht, wie Du die ganze Zeit manipuliert wirst?“ fragte ich.

„Was?! Von Nicole? Von Martina? Du hast ja wohl einen Knall!“ blaffte mich Helena an. „Du bist hier der einzige, der mich die ganze Zeit manipuliert! Du bist manipulativ, sonst niemand!“ 

Ich glaubte nicht richtig gehört zu haben. Ich öffnete das Fenster und zündete mir eilig eine Zigarette an. Nach all den Monaten, die Helena mit Nicole/Martina vergeudet hatte, nachdem sich ihre Freunde von ihr abgewandt hatten, nachdem unsere Beziehung in Trümmern lag, nachdem sie ihren Job beim Kinder- und Jugendtelefon verloren hatte, nachdem bei ihrer WG eine deutlich vierstellige Telefonrechnung eingegangen war… nach allem, was geschehen war, hatte sie tatsächlich die Stirn, mir vorzuwerfen, ich manipuliere sie.

„Ist das Dein Ernst?“ fragte ich, zitternd vor Wut.

„Ja! Und wie! Du willst, dass ich nur für Dich da bin, aber das geht nicht, ich habe jetzt diese Verpflichtungen, da musst Du entweder durch oder Du lässt es“, antwortete sie todernst.

Ich musste stark kämpfen, die Beherrschung nicht zu verlieren. Ich schnippte die Zigarette auf die Straße und feuerte das Fenster zu.

„Was soll das?!“ schrie mich Helena an.

„Ich weiß es nicht… es reicht mir, ich gehe“, antwortete ich und ging auf die Tür zu.

„Sag mal, was willst Du eigentlich?“ schrie Helena.

„Ich will, dass dieser Psychoscheiß aufhört… ich will die Helena zurück, in die ich mich mal verliebt habe, ganz am Anfang“, entgegnete ich.

„Ja, das glaube ich. Und genau das kannst Du vergessen. Weisst Du was? Ich wollte morgen zu Dir kommen, ich wollte das Wochenende über ein bisschen Zeit mit Dir verbringen, ich hatte es auch schon mit Nicole und Martina abgeklärt… aber vergiss es, ich bleibe hier. Du hast hier überhaupt nichts zu wollen! Der Anfang ist immer nur am Anfang. Jetzt ist jetzt, und Nicole braucht mich! Sie braucht mich viel mehr als…“

In diesem Moment brannte meine Sicherung durch.

„ES GIBT KEINE VERDAMMTE NICOLE!“ brüllte ich dazwischen.

Helena stand nun ebenfalls auf. Sie ging einen Schritt auf mich zu starrte mich wütend an.

„So lasse ich nicht mit mir umgehen, das ist das Letzte! Du bis ja nicht mehr normal! Geh! Geh SOFORT!“ 

„Stimmt, das ist das wirklich das Letzte“, antwortete ich, trat durch die Tür nach draussen und machte mich auf den Heimweg.

-> Zu Teil 9


Kommentare

Eine Antwort zu „Das Mädchen am Telefon (8/10)“

  1. Ich krieg beim Lesen Puls….. Wow…

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