Das Mädchen am Telefon (9/10)

<- zu Teil 8

IX.

Auf der Heimfahrt machte ich mich erstmals ganz realistisch mit dem Gedanken vertraut, meine Beziehung mit Helena zu beenden, und der Gedanke fühlte sich – vollkommen überraschend für mich – lange nicht so schlimm an, wie ich befürchtet hatte. Ganz im Gegenteil. All die letzten Monate über hatte ich gedacht, ein Scheitern der Beziehung wäre das Allerschlimmste, was mir passieren konnte, und mein Leben würde damit seinen Sinn verlieren und ähnliches mehr.

Tatsächlich aber war die Aussicht, dem Psycho-Horror endgültig zu entschwinden, befreiend und verheißungsvoll… und zum ersten Mal seit vielen Wochen schlief ich einigermaßen ruhig und tief.

Am nächsten Tag, es war ein Freitag, saß ich schließlich irgendwann an meinem Schreibtisch… ich dachte, meine Gedanken zu Papier zu bringen würde mir eventuell helfen, das Geschehene zu verarbeiten und besser zu verstehen. Ich kritzelte ein paar Stichworte auf einen Zettel, schmiss den Zettel weg, fing von vorne an, ein paar mal… bis schließlich das Telefon läutete.

Ich ging dran. „Hallo?“ sagte ich.

Am anderen Ende: Lange Stille.

„Hallo, wer ist da?“

Nach dem dritten Nachfragen erklang am anderen Ende endlich eine Stimme, und ich schwöre an dieser Stelle bei allem was mir heilig ist, es war mir beim ersten Hören vollkommen klar, dass es sich um eine Frau mittleren Alters handelte, die ihre Stimme mit sehr wenig Erfolg so zu verstellen versuchte, dass sie wie ein kleines Mädchen klang.

„Hier ist Nicole“, sagte sie künstlich weinerlich.  „Ist Helena da?“

„Nein, Helena ist nicht da. Helena ist nie wieder da. Und wenn Du jemals wieder hier anrufst, dann wirst Du einen solchen Ärger bekommen, wie Du es noch nie erlebt hast. Hab ich mich klar ausgedrückt?“

Meine Gesprächspartnerin legte auf.

Und mir wurde klar, Helena hatte tatsächlich geplant, das Wochenende bei mir zu verbringen… eine Absicht, welche auch das abstruseste Horrormärchen nicht geändert hatte. Und mit „ich hatte es auch schon abgeklärt“ meinte Helena in Wirklichkeit, dass sie Nicole und/oder Martina meine Telefonnummer gegeben hatte. Und bisher hatte sie Nicole und/oder Martina nicht von der Planänderung informiert.

Ich atmete tief durch.

Es war das erste Mal in diesem halben Jahr, dass ich die Gegenseite live gehört hatte. Wie schon erwähnt – obwohl ich mit dem Offensichtlichen konfrontiert war, hatte ich die ganze Zeit über ein ganz kleines Stück Rest-Zweifel gehegt, ob an der Nicole/Martina-Geschichte vielleicht doch irgendetwas wahres dran gewesen wäre. Doch nachdem ich diese Stimme gehört hatte, war mir schlagartig alles klar.

Meine Vermutung war immer richtig gewesen.

Jeder winzig kleine Zweifel, es könne vielleicht doch anders sein, war ausgelöscht. Und ich konnte nicht anders, ich war direkt in Berührung damit gekommen, noch viel direkter als in all der Zeit zuvor… ich musste etwas unternehmen.

Als erstes rief ich Franz Lorenz an, der mir bei unserem Besuch in Bayern schon angeboten hatte, ich könne mich jederzeit melden, wenn ich das Bedürfnis hätte.

Ich erzählte ihm, wie es uns seit unserer Abreise aus Bayern ergangen war. Und was ich gerade erlebt hatte. Er war hörbar entsetzt. „Ich kann versuchen, mit Helena zu reden“, bot er an.

„Nein, das wird nicht funktionieren. Es haben schon alle möglichen Leute versucht, mit ihr zu reden…“

„Was kann ich sonst tun?“ fragte Franz.

„Du hattest doch Kontakt mit der Kriminalpolizei in Trier. Hast Du da eine Telefonnummer?“ fragte ich.

„Ja… die kann ich dir gerne geben“, sagte er.

Wenige Minuten später hatte ich also einen Beamten der Kriminalpolizei Trier am Telefon. Ich stellte mich vor. „Ich bin der Lebensgefährte der Frau, die vor zwei Monaten die Telefonortung veranlasst hat, bei der Sie in einer Frauen-WG ein Handy beschlagnahmten. Ich weiss nicht, ob Sie sich daran erinnern oder überhaupt etwas damit zu tun hatten…“ fing ich an.

„Doch… ich erinnere mich sehr gut an die Angelegenheit… das war ein sehr interessanter Abend. Und weiter?“

Ich erzählte, wie es uns weiter ergangen war, wie Helena zu dem festen Glauben gekommen war, es gäbe doch eine Nicole, und wie diese Nicole zusammen mit Martina Helenas Leben vollkommen übernommen hatte.

Der Beamte hörte sich die ganze schreckliche Story an, und sagte schließlich: „Ich kann verstehen, dass das schlimm für Sie ist… aber wir können da nichts machen, für uns ist die Sache abgeschlossen.“

„Aber das geht so nicht weiter, das muss aufhören…“ protestierte ich.

„Wenn Ihre Freundin entschieden hat, dass sie sich anlügen lassen möchte, dann ist das zwar schlimm, aber die Kriminalpolizei kann leider nichts dagegen tun, tut mir wirklich sehr, sehr leid. Den Straftatbestand der Lüge gibt es nicht.“

„Ok, haben Sie einen Vorgesetzten?“

„Ja“

„Ich möchte mit ihm reden, bitte.“

„Der wird Ihnen auch nichts anderes sagen.“

„Ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten reden.“

„Also gut, ich verbinde Sie…“, antwortete mein Gesprächspartner, zu gleichen Teilen verständnisvoll und genervt.

„Kriminalpolizei Trier, Oberkommissar Kelling“, erklang es wenig später aus dem Hörer.

Wieder stellte ich mich vor. Ich nahm tief Luft und erzählte noch einmal die gesamte Geschichte, von Anfang bis Ende, und ich gab mir wirklich die allergrößte Mühe, sachlich zu bleiben und dabei doch die Auswirkungen auf mein und insbesondere auf Helenas Leben ausführlich zu beschreiben.

„Ihr Kollege sagte, die Polizei kann da nichts machen, aber ich bitte Sie… wenn Ihnen irgend eine Möglichkeit einfällt, dieses grausame Spiel zu beenden, bitte helfen Sie uns. Mit Helena zu reden hat keinen Sinn, und ich werde es auch nicht weiter versuchen, ich kann diese Beziehung nicht mehr fortführen. Das Problem kann nur von der anderen Seite aus gelöst werden…“, schloss ich meine Erzählung.

„Mein Kollege hat da prinzipiell recht“, sagte Herr Kelling schließlich. „Klar, es ist fürchterlich, was Ihnen passiert ist… und ich muss sagen, Hut ab, dass Sie so lange durchgehalten haben. Aber trotzdem… wir haben da eigentlich überhaupt keine Handhabe…“, erklärte er.

„Aber…“ fing ich an.

„Aber ich sehe trotzdem eine Möglichkeit“, fiel mir Herr Kelling ins Wort.

„Und zwar?“ fragte ich.

„Sie haben in Ihrer Geschichte zwei interessante Dinge erwähnt. Einen Angriff mit dem Messer und den Selbstmord von Nicoles Mutter. Zufällig weiß ich, dass es in den letzten drei Monaten in unserem Einzugsgebiet keinen einzigen Selbstmord gegeben hat. Und von einem Körperverletzungsdelikt mit einem Messer ist mir auch nichts bekannt. Und beides müssten wir eigentlich wissen…“

„Und das heißt?“

„Beides wäre ein Grund, doch noch mal bei Frau Ebert vorbei zu fahren und zu schauen, was da los ist. Dazu kommt noch, dass es noch immer eine offene Rechnung über die Funkortung gibt… wir hätten also, wenn man gewisse Vorschriften sehr weit auslegt, durchaus eine Handhabe für Nachfragen…“

„Das wäre ganz großartig von Ihnen“, antwortete ich.

„Ich kann nicht versprechen, dass es was bringt“, sagte Herr Kelling, „aber ich kann es versuchen.“

„Ich wäre Ihnen unendlich dankbar“, sagte ich.

Herr Kelling stellte mich noch an einen Kollegen weiter, der meine Personalien aufnahm, und dann hieß es warten. Herr Kelling hatte mir noch mitgeteilt, dass es durchaus sein könne, dass sich überhaupt nichts ergeben würde… und so wusste ich nicht mal richtig, worauf ich wartete. Ich beschloss, meine Wohnung aufzuräumen… irgendwo Ordnung reinzubringen, mich zu beschäftigen… war das, was ich jetzt brauchte.

Es vergingen einige Stunden, schließlich war es später Nachmittag, und das Telefon klingelte.

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