X.
„Hier Kelling, Kriminalpolizei Trier“, erklang es aus der Hörmuschel, „so… wir waren jetzt vor Ort…“, begann er, betont ruhig und sachlich.
„Und?“ fragte ich, und ich konnte deutlich mein Herzklopfen spüren.
„Ich kann Ihnen nicht alles berichten… nur so viel: Frau Ebert hat eine umfassende Aussage gemacht. Sie hat angegeben, die ganze Geschichte von Nicole von vorne bis hinten erfunden zu haben… vom Anruf mit verstellter Stimme von der vermeintlichen Autobahnbrücke bis zu den Geschichten vom Messerangriff und vom Selbstmord von Nicoles Mutter… es war, wie gesagt… alles erfunden, inklusive Nicole selbst.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also stotterte ich nur unbeholfen irgendwas ins Telefon.
„Ich kann Sie nur darum bitten, nicht allzu wütend zu sein. Ich weiß, das ist sehr schwer, aber Frau Ebert ist eine sehr bedauernswerte und psychisch kranke Frau, die vermutlich irgendwann in ihrer Kindheit vergewaltigt wurde und die Erfahrung nie verarbeitet hat“, erklärte er weiter. „So wie sich das momentan darstellt – und natürlich können wir auch da nicht sicher sein – hat sie Nicole erfunden, um diese Krise mit Hilfe Ihrer Freundin nochmal zu durchleben… um Trost und Hilfe zu finden, die sie damals nicht bekommen hat…“
„…und um Helena und mich durch die Hölle gehen zu lassen“, sagte ich schließlich.
„Ich verteidige nicht, was sie getan hat. Es war schrecklich und unfair Ihnen gegenüber. Aber ich denke, es ist jetzt vorbei“, sagte Herr Kelling.
„Und wie geht es jetzt weiter?“
„Wir werden uns demnächst bei Ihrer Freundin melden und ihr berichten, was sich ereignet hat. Frau Ebert wird sich für unsere Einsätze und die Funkortung verantworten müssen, sie wird Ihre Freundin nicht länger belästigen, und sie wird die Hilfe eines ausgebildeten Psychotherapeuten in Anspruch nehmen“, antwortete Herr Kelling.
Ich dankte ihm aus tiefstem Herzen, ich konnte gar nicht mehr aufhören, ihm zu danken… und ich verspüre auch heute noch, beinahe zwanzig Jahre später, wo ich diese Zeilen schreibe, eine tiefe Dankbarkeit. Denn ich kann mir nicht ausmalen, in welcher Katastrophe es geendet hätte, hätte Herr Kelling seine Befugnisse nicht großzügig ausgelegt und somit verhindert, dass Martina weiter ihr Unwesen treiben konnte.
Kaum hatte ich aufgelegt, schon läutete wieder das Telefon. Helena war dran.
„WAS HAST DU GETAN?!“ brüllte sie mir ins Ohr.
„Ich…“, begann ich.
„Martina hat gerade angerufen!“, unterbrach Helena aufgebracht. „Sie war fix und fertig, ich hab sie kaum verstanden weil sie die ganze Zeit geweint hat… sie hat gesagt, sie dürfe nie wieder mit mir reden… sie wolle sich nur noch entschuldigen, und alles würde gut werden, und dann hat sie aufgelegt… HAST DU ETWAS DAMIT ZU TUN?!“
„Unter anderem auch ich… ja“, antwortete ich ganz ruhig.
„Was soll das heißen, unter anderem auch Du?! Du hattest kein Recht, Dich da einzumischen! Wenn ich rauskriege, dass irgendjemand wegen Dir zu Schaden gekommen ist, wirst Du deines Lebens nicht mehr froh!“
Jetzt musste ich tatsächlich lachen. Nicht etwa aus einem Überlegenheitsgefühl oder irgendeiner Art von Schadenfreude heraus… in Wirklichkeit tat mir es mir um Helena, um mich und um all unsere vertane Zeit fürchterlich leid. Doch Helenas Sorge, dass ausgerechnet durch das heldenhafte Eingreifen von Herrn Kelling „jemand zu Schaden“ gekommen sei, und ihre Drohung, ich würde „meines Lebens nicht mehr froh“ werden… beides war so abgrundtief absurd und an der Wirklichkeit vorbei, dass ich nicht anders konnte als zu lachen.
Es waren jetzt ein halbes Jahr lang Menschen zu Schaden gekommen, und „meines Lebens nicht mehr froh“ war eine durchaus passable Umschreibung meiner Realität die letzten sechs Monate über.
„Also? Erklärst Du mir jetzt, was passiert ist?“ fragte Helena aufgebracht.
„Nein“, antwortete ich.
„Nein?!“ schrie es verzerrt aus dem Hörer.
„Nein. Die Kripo Trier wird Dir erklären, was passiert ist. Und wenn Du es dann irgendwann kapiert hast, dann können wir uns gerne wieder treffen und darüber reden. Aber bis dahin halte ich es für geschickt, wenn wir das jetzt hier beenden“, erklärte ich.
„Oh nein, so leicht kommst Du mir nicht davon…“, sagte Helena.
„Doch“, sagte ich und legte auf.
Danach allerdings nahm ich noch mal den Hörer ab und rief unsere gemeinsame Freundin Nadine an. Ich erzählte ihr, was geschehen war.
„Oh ein Glück, dass es endlich vorbei ist“, seufzte sie schließlich, als ich meine Erzählung beendet hatte.
„Ja… aber ich glaube, es wird noch dauern, bis Helena versteht, was passiert ist… deshalb rufe ich an. Magst Du vielleicht hinfahren? Sie braucht jetzt jemanden, sie ist ganz allein.“
„Wäre das nicht eigentlich eine Aufgabe für Dich? Ich meine, so, als ihr Freund…“ fragte Nadine.
„Nein, wirklich nicht. Und ich weiß auch wirklich nicht, ob ich noch ihr Freund bin“, antwortete ich.
„Ich verstehe…“, sagte Nadine nachdenklich, „Das tut mir sehr leid…“, fügte sie schließlich hinzu.
„Es braucht Dir nicht leid tun, es ist in Ordnung.“
Nachwort
Einige Tage später war Helena so weit, dass sie mit mir reden wollte. Ich habe nicht mehr viel Erinnerungen an das Gespräch… und auch nicht an irgendwelche folgende Gespräche über Martina. Ich weiss nicht mal mehr, ob jemals das Wort „Danke“ fiel. Oder „Entschuldigung“. Oder sonst was in der Richtung. Ich weiß nur noch, dass sie glaubte, im Telefonkontakt mit mir sei Martina irgendwie „anders“ gewesen als bei ihr, und nur deshalb hätte ich die Täuschung bemerkt. Ich ließ ihr diesen Glauben. Ich vermute, ein Teil von ihr wünschte sich noch lange, dass die Geschichten doch wahr gewesen wären. Aber das ist pure, amateurpsychologische Spekulation.
Es klingt sehr böse, aber in gewisser Weise war die ganze Erfahrung heilsam für mich, denn mir wurde deutlich vor Augen geführt, was ich all die Zeit über nicht hatte sehen wollte: Dass ich in dieser Beziehung, salopp ausgedrückt, nicht den einzigen Dachschaden hatte… wenn überhaupt. Meine eigene Therapie brach ich in Einvernehmen mit meiner Therapeutin schließlich ab – ich hatte eingesehen, dass es letzten Endes nichts an mir gab, was ich unbedingt hätte behandeln müssen. Es war nichts kaputt, nichts gestört. Manche Dinge verletzen mich halt mehr als andere, und das ist vollständig normal.
Wir gaben der Beziehung noch eine Chance, insgesamt sogar noch mal über ein Jahr lang – dieses Mal auf Helenas Wunsch hin unter Zuhilfenahme einer Paartherapie. Aber es wurde uns im Laufe dieser Zeit vollends klar, dass wir einfach nicht zueinander passten, und dass auch der tollste Sex nicht alleiniger Grundstein einer funktionierenden Beziehung sein konnte.
Das Ende war dann eher unspektakulär… Helena warf mir irgendwann zum wiederholen Mal (auf ihre im Umgang mit mir häufig anzutreffende, direkte und undiplomatische Art und Weise) vor, dass ich mein Leben nicht im Griff hatte und mich um die falschen Dinge kümmerte – ich begann damals wieder damit, Musik zu machen –, und ich beschloss, dass ich mir derlei Dinge in dieser Form nicht mehr anhören wollte und meine Zeit ganz allgemein lieber mit Menschen verbrachte, die noch irgendetwas außer meiner Sexualität an mir gut fanden. Es gab noch nicht mal Streit, es ging vollkommen leidenschaftslos auseinander.
Ich befürchte, es ist mir bei der Niederschrift dieser Geschichte nicht immer gelungen, mich positiv oder wenigstens neutral über Helena zu äußern, obwohl ich mir das fest vorgenommen hatte.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle nochmal ausdrücklich feststellen: Helena war in der Zeit, in der wir uns kannten, ein großartiger Mensch. Sie war friedliebend, politisch engagiert, kreativ, hoch intelligent und neugierig. Die Leidenschaft, mit der sie sich jederzeit und bedingungslos für ihre Überzeugungen und das Wohlergehen anderer Menschen einsetzte, konnte nur schwer übertroffen werden. Ich bin mir sicher, es wurde eine großartige Therapeutin aus ihr. Und selbst wenn es heute meine Überzeugung ist, dass wir nie ein Paar hätten sein dürfen und dass die hier beschriebenen Vorkommnisse zu der krassesten Scheiße gehören, die ich je erlebt habe, so habe ich doch für mein weiteres Leben ungemein nützliche Lehren aus meiner damaligen Beziehung zu Helena gezogen.
Damals, als die Wunden noch frisch waren, wünschte ich Martina Ebert die Pest an den Hals. Ich wünschte ihr, dass sie hundertfach bezahlen würde für unseren verlorenen Sommer und für das Leid und all den Schmerz und die Unsicherheit, die sie Helena und mir zugefügt hatte.
Wenn ich heute an sie denke, dann denke ich an einen verletzten und einsamen Menschen, der hilflos und allein am Telefon sitzt und für eine junge Frau am anderen Ende der Republik Abend für Abend ein trauriges und kaputtes Live-Hörspiel zum besten gibt, immer und immer wieder, mal mit echter und mal mit verstellter Stimme.
Und ich kann nicht anders, als Mitleid für diesen Menschen zu empfinden, und ihm zu wünschen, dass er Hilfe gefunden hat.
Bad Honnef, Dezember 2018
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