(Teil 1 ist hier)
Die Tage zogen ins Land, und Laura und ich arbeiteten weiter an unserer Live-Präsenz (und zwischendrin, wenn wir keine Lust mehr darauf hatten, an neuen Songs für unser nächstes Album). Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, aber eines Tages flatterte uns eine Email von Mr. Big ins Band-Postfach… er würde sich sehr gerne mit uns treffen, wann und wo es uns denn recht wäre.
Ich wohnte damals noch im schönen Mehlem, nicht weit weg vom Rhein im „Meisengarten“, einer ziemlich schnieken Wohnaussiedlung, die ungefähr überhaupt nicht zu mir passte. Im Sommer war es da sehr nett, man konnte im angrenzenden Park spazieren gehen, man konnte den Promenadenweg am Rhein entlang schlendern, und nach ungefähr zwei Kilometern kam man am Rheinhotel Dreesen an, einer ebenfalls ziemlich schnieken Location plus einem für Bonner Verhältnisse riesigen, bayerisch angehauchtem Biergarten.
Das schien uns der angemessene Platz zu sein, und so verabredeten wir uns an einem schönen Tag im Mai für den Biergarten. Laura und ich hatten uns vorher zum Proben bei mir in der Wohnung getroffen und Mr. Big die Wahl gelassen, zu unserer Probe oder direkt in den Biergarten zu kommen. Wie sich später herausstellte, hatte er sein Auto bei mir um die Ecke abgestellt, sich dann aber spontan entschieden, uns nicht beim Proben zu stören und lieber schon mal in den Biergarten zu laufen.
Als wir schließlich im Dreesen ankamen, saß also ein unübersehbarer Mr. Big im gut gefüllten Biergarten allein an einem Tisch in der Mitte, ein leeres Weizenglas und die Reste einer Brezel vor ihm.
„Da seid ihr ja, ich hab schon mal angefangen und den Tisch freigehalten…“, sagte er, schüttelte uns die Hände, winkte die Bedienung herbei und bestellte Getränke für uns alle. Er wartete erst gar nicht ab, bis die Bestellung da war, sondern zog einen Notizzettel aus der Jackentasche, legte ihn vor sich auf die Tisch, stützte sich auf die Ellenbogen und schaute uns abwechselnd forschend ins Gesicht.
„Also… zuallererst…“, begann er. „Ich hab gesehen, ihr seid bei CC oder irgendwie sowas, und nicht bei der GEMA. Was hat es damit auf sich? Ist das so eine alternative Verwertungsgesellschaft oder wie funktioniert das?“
Mr. Big hatte noch nie etwas von CC-Lizenzen gehört, und freie Musik war ihm fremd. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass es unsere Strategie mit „Grounded“ gewesen war, darauf zu hoffen, dass Internet-Radios und Podcaster unsere Musik entdecken und spielen würden… und dass sie in der Folge massenhaft kopiert und gebloggt werden und so Bekanntheit und Verbreitung finden würde – nicht zuletzt, weil sich schon bald herausgestellt hatte, dass unsere Produktionen wesentlich ausgereifter waren als die unserer Mitbewerber.
Er grinste mitleidig und schüttelte den Kopf. „Das ist der größte Bullshit, den ich je gehört habe. Was nichts kostet ist auch nichts wert. Ihr habt da nichts verloren. Ihr braucht einen vernünftigen Labeldeal, und dann müsst ihr zur GEMA, damit ihr einfach und schnell Kohle kriegt, wenn ihr live spielt oder im Radio gespielt werdet, oder wenn euch jemand remixt. Internetradios, was ein Scheiß. Internetradios sind gar nichts. Ihr glaubt doch nicht ehrlich, dass ihr damit eine stabile Fanbase hinkriegt, dass sich die Leute bedanken und an euch erinnern, nur weil ihr ihnen jetzt was schenkt. Und die Profis… haha… die nehmen euch nicht ernst, da kann euer Shit noch so gut produziert sein… Neeeee, das kann gar nicht funktionieren… nee nee…“
Laura und ich schauten ziemlich verdattert drein, als Mr. Bigs letzte „Nee-Nees“ schließlich zu einem veritablen und lautstarken Lachanfall mutierten, welcher die Blicke der umliegenden Biergartengäste auf sich zog.
Tja, was soll ich sagen… im Prinzip hatte er leider recht. Kurze Gegenprobe, liest hier, 12 Jahre später, noch irgendjemand von der „Freien Musikszene“ von damals mit? theradio.cc, Volker, Wai, afmusic, Musikpiraten, die Singvøgel und wie ihr euch alle nanntet? Habt ihr noch was von unseren nächsten 3 Alben mitgekriegt? Habt ihr mitgekriegt, wie ich erst meinen Vater und dann meine Mutter verlor? Uns unterstützt, als es bergab ging? Ist es euch klar, dass ich immer noch Musik mache und veröffentliche? Dürft euch gerne in den Kommentaren zu Wort melden… wie, nicht? Tja, seht ihr wohl.
„Ok, lasst uns erstmal anstoßen“, sagte Mr. Big, nachdem er sich wieder beruhigt hatte, und leerte sein inzwischen angekommenes Weizenglas zu drei Vierteln ohne einmal abzusetzen. „Gut, weiter im Text…“, sagte er, schaute auf seinen Notizzettel, „eure Platte!“ (womit er ‚Grounded‘ meinte, das wir vor etwas mehr als einem Jahr veröffentlicht hatten).
„Ja?“ fragten Laura und ich gespannt.
„Eure Platte ist supergeil, und ihr habt’s echt drauf, aber ihr habt’s leider gleich am Anfang vollkommen verkackt!“
Ich runzelte die Stirn. „Wie meinst Du das?“
„Das Intro, Mensch!“ rief Mr. Big und gestikulierte aufgeregt, als ob er mir das Einmaleins beibringen müsste. „Das hört sich keine Sau an. Das braucht ewig, bis endlich mal was passiert. Sowas könnt ihr euch erlauben, wenn ihr groß und berühmt seid, aber vorher macht ihr euch alles kaputt damit!“
„Aber es ist so ein schönes Intro… und das Solo…“, begann Laura.
„Scheiß auf das Solo!“, wurde sie von Mr. Big unterbrochen, „niemand hört das Solo! Die haben längst abgeschaltet, wenn das Solo kommt. Die gehen alle auf skip, wenn eure Platte sie nicht vom ersten Moment an fesselt. Ihr müsst in den ersten paar Sekunden alles unterbringen, was euch ausmacht, damit eure Hörer dranbleiben… dürft ihnen keine Gelegenheit geben, was anderes zu hören. Und das habt ihr vollkommen verschissen.“
Tja, was soll ich sagen… im Prinzip hatte er leider recht. Bandcamp bringt ein paar nette Analyse-Tools mit, an denen man sehen kann, wann jemand einen Song gehört hat, und wieviel davon, etc. pp. Und bei „Thanksgiver“ ist deutlich zu sehen dass 92% der Zuhörer nach den ersten acht Sekunden von „Winter/Wolfpack/Serenade“ aussteigen. Die warten nicht mal ab, bis Steffi den ersten Ton gesungen hat. Im heutigen Youtuber-und-Selfie-Knipser-Internet-Fernsehen des Jahres 2019 muss überall und immer gleich sofort was geil befriedigendes passieren, ansonsten wird erbarmungslos weitergezappt. Auch dieser Punkt geht also zumindest theoretisch an Mr. Big, auch wenn ich mich natürlich weiterhin weigere, meine Musik kaputt zu machen, nur weil es kommerziell Not tut.
„So… wie sieht’s mit Pressemappe aus? Habt ihr so was…?“ fragte er.
„Wir haben ein PDF, das verschicken…“, antwortete ich, „aber von den Zeitschriften und Verlagen kommt so gut wie nie was zurück…“
Mr. Big schüttelte den Kopf. „Wieviel hast Du denn angeschrieben?“ fragte er mich, und er stellte die Frage so, dass ich mir wie ein kleines, doofes Kind vorkam, das von nichts eine Ahnung habe.
„Naja, so vier… fünf…“, antwortete ich.
Wieder lachte Mr. Big laut los. „Dachte ich mir. Du musst aber 100 anschreiben, dann merkt vielleicht einer davon mal auf… so wird das nie was…“
Das war wohl der Moment, an dem ich durch genervtes Aufstöhnen klar machte, dass mir diese Diskussion allmählich in die falsche Richtung ging.
„Was ist das Problem?“ fragte Mr. Big.
Ich hatte damit gerechnet, dass es irgendwann wieder zur Sprache kommen würde. Und weil ich mich mit dem Problem jahrelang und intensiv auseinander gesetzt hatte, kam meine Antwort auch ziemlich deutlich und wie aus der Pistole geschossen:
„Das Problem ist, dass ich Musiker bin, und kein Verkäufer. Ich will mich nicht anbiedern, ich will kein ’nein‘ hören und vor allem will ich nicht jeden Tag erfahren wieviele Leute sich nicht für mich interessieren, das frustet alles. Ich will einfach nur Musik machen“ erklärte ich.
Mr. Big schaute mich eine Weile durchdringend und forschend an. Dann grinste er.
„Dann ist es ja gut, dass wir heute hier zusammen sitzen“, sagte er, machte eine geheimnisvolle Pause und grinste weiter.
„Und zwar?“ fragte Laura schließlich.
„Und zwar folgendes: Also. Erstmal die Tatsache: Ihr seid gut, wirklich richtig gut. Das Problem ist, dass das niemand weiß, und dass euer Businessplan einzig und allein darin besteht, teuer produzierte Musik an ein paar Nerds zu verschenken.
Da gibt’s eine ganz einfache Lösung: Lasst mich für euch arbeiten.
Ich mache die Promo für euch, buche Gigs für euch und bringe euch auf Festivals unter. Und das Wichtigste: Ich arbeite in Köln unter anderem mit einem Label zusammen, die gehören Sony Music, und die haben sowohl Indie- als auch EDM-Sachen in ihrem Katalog. Der Chef von denen ist ein guter Freund von mir, ich hab ihm ein paar Tracks von euch gezeigt, und der würde euch für euer nächstes Album sofort unter Vertrag nehmen.“
Sowohl Laura und mir blieb die Spucke weg.
„Ist das Dein Ernst?“ fragte Laura schließlich.
„Klar ist das mein Ernst“, antwortete Mr. Big.
„Und was ist der Catch dabei?“ fragte ich. Nach den bisherigen Erfahrungen mit der Rezeption meines künstlerischen Schaffens, erschien mir ein Deal mit einem Musik-Riesen aus heiterem Himmel wie ein sehr deutlicher Fall von „zu gut um wahr zu sein“.
„Naja, der Catch ist, dass ihr mich dafür bezahlt. Ich bekomme Anteile am Gewinn. Und ihr müsst mit diesem CC-Schwachsinn aufhören und euer Zeug so schnell wie möglich bei der GEMA anmelden. Ich übernehme das auch gerne für euch…“
Ich schüttelte den Kopf. „Das geht nicht“, sagte ich, während Laura mich unter dem Tisch schmerzhaft am Schienbein traf. „Wenn wir die Musik einmal CC-lizenziert haben, können wir nicht einfach einen Rückzieher machen. Das ginge nur mit zukünftigem Material“, erklärte ich.
Mr. Big zuckte mit den Schultern. „Dann ist das halt so… dann eben alle zukünftigen Tracks. Euer altes Zeug ist eh nicht richtig live-fähig, ihr braucht schnellere Tracks, mehr tanzbare Sachen, mehr so Sachen wie das mit den Morsezeichen und den Breakbeats“ (er meinte ‚Voices‘ und ‚Inhale‘).
„Ok, mit zukünftigen Liedern könnte man darüber nachdenken…“, gab ich zu. Eigentlich war ich ziemlich überzeugt gewesen von der CC-Idee, ich konnte aber vor der Realität nicht die Augen verschließen, und die Realität war nun mal, dass unser Plan mit der freien Musikszene nicht aufgegangen war.
„Ja… denkt gerne ein bisschen darüber nach… ich werde euch nicht drängen, und ihr habt ja Zeit. Ich sage nur wie es ist: Im Moment werft ihr nur Perlen vor die Säue, und wenn ihr daran nichts ändert, dann werdet ihr das auch in zwanzig Jahren noch tun…“
Tja, was soll ich sagen… und so weiter.
An weitere Details des Abends habe ich nur lückenhafte Erinnerungen… die Plattenvertrag-Enthüllung hatte uns ganz schön aus der Bahn geworfen. Irgendwann tauschten Laura und ich einen Blick aus, und mir wurde klar, es gab da ein Problem, das ich ansprechen musste.
Laura und ich waren zwar lange und eng befreundet und hatten gemeinsam eine phantastische Reise hinter uns gebracht, aber diese Freundschaft war nicht ohne immer deutlicher zu Tage tretende Probleme und Abgründe – und wir beide hatten eine Ahnung, dass unsere musikalische Partnerschaft an einem dieser Abgründe möglicherweise irgendwann einmal enden würde…
„Was ist, wenn wir uns trennen? Wenn wir die Platte nicht fertig kriegen?“ fragte ich Mr. Big, und Laura nickte zustimmend. Sie hatte das Gleiche gedacht.
Mr. Big leerte sein Weizenglas in einem Zug und schaute mich an. „Dann habe ich eben auf das falsche Pferd gesetzt und verloren. Aber ihr trennt euch nicht, ihr rockt das Ding!“
Wir tauschten einen weiteren Blick aus. Laura nickte. „Klar“, sagte sie. Ich nickte. „Sicher“. Sie nochmal: „Klar“. Ich: „Natürlich rocken wir das Ding“. Mr. Big lachte laut los und bestellte uns noch ein Runde. So viel zu unseren Einwänden.
Es wurde später und später, und es wurde mehr und mehr Wein, Weizen und Pils für Laura, Mr. Big und mich respektive. Schließlich bezahlten wir und wankten zurück zu meiner Wohnung. Angesichts unseres Blutalkohols verwundert es nicht, dass ich mich auch hier nicht mehr an die Details erinnern kann. Ich weiß noch, es war spät abends und eine unglaublich schwüle Sommernacht. Die Glühwürmchen tanzten auf dem Weg zwischen Rhein und angrenzenden Wäldchen und Parks, und Laura und ich waren vollkommen albern, machten schlechte Witze, und mussten uns den ganzen Weg lang gegenseitig festhalten, damit nicht einer von uns kopfüber wahlweise im Rhein oder im Wäldchen landete.
Ganz im Gegensatz zu Mr. Big, dem die beachtliche Menge Alkohol, die auch er zu sich genommen hatte, überhaupt nicht anzumerken war. Im Gegenteil, er lief relativ stabil neben uns her, beobachtete uns mit einer Mischung aus Amüsement und Neugier und schwieg die meiste Zeit.
Erst als wir vor meiner Wohnungstür standen, redete er wieder.
„Ich mach euch bis die Tage mal ein bisschen Papierkram fertig, dann könnt ihr euch überlegen, ob ihr einsteigen wollt oder nicht… und, hey… das wollte ich euch die ganze Zeit mit auf den Weg geben: Eine andere Band von mir hat in drei Wochen einen Gig im MTC in Köln. Das wird erstklassig, die machen Dark Rock, spielen so in die Richtung Within Temptation und Evanescence, nur auf deutsch und in punkiger; was meint ihr, wollt ihr da die Vorband machen? Das würde euch ne Menge neues Publikum bringen…“
Laura und ich schauten uns an. „Äh… ich weiss nicht ob wir da die richtigen sind…“, sagte ich. „Ich meine… Within Temptation, Evanescence… hast Du unsere Musik mal gehört?“
„Ja klar, ihr habt doch auch rockige Sachen. Das Ding mit den Morsezeichen und so. Das spielt ihr, ihr braucht ja nur vier Songs zu spielen das kriegt ihr hin. Die sind ARSCHgeil, die spielen auf Festivals, die bringen ganz viel neue Fans für euch mit…“
„Na ja“, sagte Laura, während dieses Mal ich derjenige war, der die ganze Zeit erfolglos versuchte, sie unbemerkt zu kneifen oder zu treten oder sonstwie am Weiterreden zu hindern, „wenn wir die düsteren Sachen spielen, Voices, Inhale, Moron Island… dann geht das doch, und das passt auch ganz gut, wir spielen in der gleichen Woche im Jakobshof in Aachen, dann sind wir schon eingeübt…“
Ich seufzte und gab meinen Widerstand auf.
„Na seht ihr wohl…!“ sagte Mr. Big. „Also abgemacht, Freitag in drei Wochen im MTC, ich schick euch nochmal die Einzelheiten!“
Und damit drehte er sich um und lief zielsicher auf sein schickes Sportwägelchen zu.
„Du wirst doch wohl nicht Auto fahren wollen?“, fragte ich.
„Ich bin praktisch nüchtern. Kein Problem. Bis demnächst!“ sagte er, stieg ein und brauste in die Nacht davon.
(Fortsetzung folgt)
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