Das Mädchen am Telefon (Teil 2/10)

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II.

Helena tat alles, was in ihrer Macht stand.

Sie ging auf Nicole ein, redete beruhigend und ablenkend mit ihr lange über alles Mögliche und ließ sich schließlich und allmählich die Geschichte – oder zumindest einen Teil der Geschichte – erzählen, welche Nicole auf diese Brücke getrieben hatte.

Nicoles Mutter hatte vor einem Jahr neu geheiratet. Vor einem halben Jahr hatte dann Nicoles Stiefvater damit begonnen, das 12jährige Mädchen regelmäßig zu vergewaltigen.

Heute Abend schließlich hatte Nicole all ihren Mut zusammengenommen und ihrer Mutter von den wiederholten Vergewaltigungen erzählt. Ihre Mutter wurde wütend, glaubte ihr kein Wort, gab ihr eine Ohrfeige, zusammen mit der eindringlichen Aufforderung, niemals wieder solch einen Quatsch zu erzählen.

Tja, und jetzt stand sie da, auf der Talbrücke, und telefonierte mit Helena.

Helena redete lange und ausgiebig mit ihr, und es gelang ihr im Laufe des Gespräches tatsächlich, Nicole sicher von der Brücke runter zu bekommen.  Es war spät geworden, der Schließdienst stand vor der Tür, Nicoles Handy war beinahe leer, und Helena sah in der Eile nur eine einzige Möglichkeit, Nicole weiterhin davon abzuhalten, sich etwas anzutun. Und so traf sie die folgenschwere Entscheidung, Nicole ihre private Telefonnummer zu geben und ihr das Versprechen abzunehmen, sich nichts anzutun und sie wieder anzurufen.

Als sie mir später am Abend am Telefon (wir führten damals eine Fernbeziehung) davon erzählte, da hatte sie beinahe schon ein schlechtes Gewissen. Was das Studium, ihre Arbeit und den zukünftigen Beruf anging, kam es ziemlich häufig vor, dass Helena Angst davor hatte, etwas falsch zu machen. „Wir lernen eigentlich im ersten Semester, dass man so was auf keinen Fall tun darf“, erklärte sie.

„Aber warum?“ fragte ich, damals noch relativ unwissend was psychotherapeutische Vorgehensweisen betraf.

„Weil die Gefahr besteht, dass man sich zu sehr reinziehen lässt… und das Ganze ist eine Nummer zu groß für mich“, antwortete Helena.

„Na ja… Du hast getan, was Du tun musstest. Es gab ja keine andere Möglichkeit. Du hast ihr geholfen, und wenn sie sich wieder bei Dir meldet…“, begann ich.

„…dann werde ich schauen, dass ich einen Kontakt zu einer Beratungsstelle herstelle, wo ihr professionell geholfen werden kann“, vollendete Helena meinen Satz. „Aber Du hör mal… ich muss jetzt aufhören zu telefonieren, vielleicht ruft Nicole ja noch heute nacht an…“

Das leuchtete mir ein, also planten wir noch schnell, wer an diesem Wochenende wen besuchen würde (sie würde zu mir fahren) und verabschiedeten uns schließlich.

Helena und ich studierten damals in der gleichen Stadt und trafen uns am folgenden Tag zum Mittagessen. Nicole, so erzählte sie mir, hatte in dieser Nacht noch einmal angerufen, und insgesamt hatten die beiden über zwei Stunden lang telefoniert.

Helena hatte kaum Appetit, denn das Gespräch war anstrengend gewesen, und sie hatte Details erfahren, die sie lieber nicht gehört hätte. Sie wusste jetzt über Nicoles Familienverhältnisse bescheid, wusste dass Nicoles Familie in einem kleinen Dorf in Bayern unweit der Donau wohnte, und sie wusste, dass Nicoles Stiefvater sie bisher insgesamt sieben Mal vergewaltigt hatte, zum letzten Mal vor nur wenigen Tagen.

Es war in der Tat eine sehr schlimme Geschichte, und es war deutlich zu merken, wie sehr Helena bereits von der Sache mitgenommen war.

„Und konntest Du jetzt einen Kontakt zu einer Vertrauensperson vermitteln?“

Helena schüttelte ungeduldig den Kopf. „Das ist nicht so einfach… sie vertraut mir.“

„Und das heißt?“ fragte ich.

„Sie möchte mit niemand anders reden. Ich wollte ihr eine Telefonnummer geben, aber da wurde sie sofort traurig und wieder ganz verschlossen… weil sie dachte, ich wolle den Kontakt zu ihr abbrechen…“

„Hm, Mist…“

„Ja, Mist.“

Am Ende war Helena zu der Überzeugung gelangt, dass es angebracht war, das gemeinsame Wochenende ausfallen zu lassen. Schließlich hatte sie Nicole am Telefon nicht darüber informiert, dass sie am Wochenende nicht da sein würde… und wenn wieder etwas passierte, dann wollte sie zur Stelle sein.

 

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